„Nachbarn“, so lautet der Titel einer weltweit bekannten Australischen Fernsehserie aus den 80-ern, die Jahrzehnte (ähnlich wie die Lindenstrasse) ausgestrahlt wurde. Nachbarn können unterstützen aber auch der Stressfaktor im Alltag sein. Es ist gut und wichtig, seine Nachbarn zu kennen. In Berlin war mir das nicht immer gegeben. In Kigali wollte ich diese Chance nicht verpassen und meldete uns über unsere Security zum „Umuganda“ an. Thomas hat ja bereits einen Artikel dazu geschrieben. Nun sollten auch wir dabei sein!
Jeden letzten Samstag im Monat trifft sich die Nachbarschaft zum gemeinschaftlichen Arbeitseinsatz und zu einer anschliessenden Ortsteil- und Lagebesprechung. Diese Aktion ist rechtlich für alle Ruandischen Haushalte verpflichtend, da das gemeinsame Arbeiten als Basis der Entwicklung Ruandas propagiert wird. Wer nicht am „ Umuganda“ teilnimmt, wird mit 5.000 Ruandischen Franc Bußgeld (5€) bestraft.
Jeder Stadtteil von Kigali (unser Stadtteil ist Kicukiro) besteht aus mehreren Ortsteilen (unser Ortsteil heisst Muyange). Diese sind ein Zusammenschluss aus mehreren Dörfern (unser Dorf ist namensgleich unserem Ortsteil) und jedes Dorf gliedert sich noch einmal in so genannte „Zellen“.
Gegen 7:30 Uhr frühstückten wir noch und plötzlich war in der Ferne eine Lautsprecherdurchsage zu hören. Thomas wusste sofort: es ist „Umugandazeit“. Wir wurden allerdings erst 8:30 Uhr persönlich von unserer unmittelbaren Nachbarin abgeholt. Sie ist „Zellenverantwortliche“ und koordiniert 25 nachbarschaftliche Haushalte. Sie muss also dafür sorgen, dass alle Haushalte je einen Vertreter zum „Umuganda“ entsendet.
Auf unserer kleinen Strasse öffneten sich plötzlich die mächtigen Toren, die sonst die Wohnhäuser und Gartenanlagen vor jedweder Einsicht schützen. Einzelne Nachbarn traten heraus. Sie hatte entweder eine Spitzhacke, eine Schaufel oder eine Machete über der Schulter. Unser Securitymann holte auch für uns die passenden Geräte und so zogen wir los, durch den gesamten Ort. Im Verlauf schlossen sich immer mehr Nachbarn an. Sie stiessen aus Seitenwegen zu uns und gemeinsam zogen wir zu einem zentralen Treffpunkt. Ich hatte unweigerlich eine Assoziation zu einem Foto aus meinem Geschichtsbuch: Bauernaufstand und Thomas Müntzer.
Wir wurden freundlich begrüsst, da wir unterdessen auch gelernt haben in Kinyaruanda zu grüssen bzw. auf einen Gruss zu antworten. Anderenfalls begegnen einem nur ausdruckslose Minen! Einige Nachbarn sprachen auch recht gut englisch. So waren wir schnell und gut eingebunden und bekamen auf unsere zahlreichen Fragen auch alle Antworten.
Am Dorfrand hatten sich entlang eines schmalen Weges ca. 100 Nachbarn aus ca. 5 „Zellen“ versammelt. Die jeweiligen Zellenwarte liefen geschäftig mit Papiermappen unter dem Arm herum, hielten einige Minuten Lagebesprechung und nach einem kurzen Kommando, begann ein Teil der am Rand Herumstehenden, Sträucher mit den Macheten zu beschneiden und der andere Teil hackte meterhohes Unkraut vom Wegesrand. Es staubte, wirbelte kleine Steine und die Sonne brannte. Der Spuk dauerte zu unserem Erstaunen jedoch nur 15 Minuten!
Es ging unmittelbar weiter zu Fuss zum Versammlungsort unter einen riesigen, breitkronigen Baum. Schatten!
Alle setzten sich und die Redner (Zellenverantwortliche und Lokalpolitiker) traten einzeln nach vorn. Die Anwesenden wurden nun in 2 Stunden über aktuelle politische Entscheidungen informiert, es wurden Regierungsvorgaben kommuniziert und jede Zelle erhielt den Auftrag, eigene Jahresziele zu formulieren. Ausserdem muss jeder Haushalt persönliche Ziele benennen, die erreicht werden sollten. Dank der grossartigen Übersetzung unserer Zellenverantwortlichen und einer Mitarbeiterin im Landwirtschaftsministerium verstanden wir jedes einzelne Detail der Bürgerversammlung. Zu unseren unmittelbaren Nachbarn gehörte auch ein Staatssekretär des Bildungsministeriums. Ein grosser kräftiger Mann mit einer riesigen wulstigen Narbe vom linken Ohr bis unter das Kinn. Anzeichen für einen Überlebenden des Genozids? Wir fragten nicht! Einige unserer Nachbarn erzählten uns, dass sie nach 1994 aus Uganda in ihr Heimatland zurückgekehrt waren.
Nach jedem Redebeitrag wurden auf das Kommando des Zellenverantwortlichen von alle Teilnehmenden die Fäuste in die Luft gestreckt und mit einem Ausruf geantwortet. Das Ganze wirkte wie der Beginn einer Revolution nur irgendwie friedlicher.
Es ging auch nicht nur um Politik. Eine Nachbarin bat z.B. um Unterstützung bei den Steuerpapieren für ihr kleines Schuh-Business und ein Nachbar bot sogleich Hilfe an. Ein anderer Nachbar beschwerte sich, dass Kinder aus der Schule nach Hause geschickt würden, sofern sie sich unangemessen verhielten. Eine Bestrafung der Kinder durch Ausschluss von der allgemeinen Schulbildung sei auf keinen Fall eine Lösung. Auch das Schulessen wurde diskutiert. Der Staat zahlt einkommensschwachen Familien Subventionen für eine warme Mahlzeit in der Schule, jedoch müssen die Eltern auch einen Eigenanteil leisten. Viele sparen häufig diesen Eigenanteil ebenso wie den staatlich ausgezahlten Zuschuss. Das sei nicht korrekt, so die eindeutige Meinung aus der Nachbarschaft. Kinder können hungrig nicht lernen! Spannende Themen für uns und auch interessant zu beobachten, wie sich Einzelne verhielten unter Anwesenheit von politischen Autoritäten.
Wir sind nun Teil der Nachbarschaft und werden jeden Monat zum Umuganda abgeholt. Wir dürfen und wollen auch unseren Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Unser abgestimmtes „Zellenziel“ ist die Installation von Strassenlampen auf unserer kleinen Sackgassenstrasse und damit die Verbesserung der Sicherheit im Dorf. Der Weg vor unserem Haus ist ein Teil des Schulweges und wird daher von vielen genutzt.