Letzter Arbeitstag vor den Ferien

Unser letzter Arbeitstag war sehr entspannt, da wir unterdessen mit unserem Projekt schon sehr gut vorangekommen und gut im Zeitplan sind.

Deshalb konnten wir den Tag auch sportlich beginnen und haben uns gemeinsam im Nationalsport, Cricket versucht.

Danach haben wir unsere Tagesordnung für unser regelmäßiges Samstagsmeeting abgearbeitet und den Projektstand ausgewertet. Wir wollten uns bei den Lehrern auch noch einmal für die intensive Arbeit mit uns bedanken und haben sie in Sangola zum Essen eingeladen. Also ging es mit allen Lehrern im Schulbus in die Stadt. Die Lehrerinnen hatten aus diesem Anlass mal wieder phantastische Saris angezogen.

Für uns ging es dann weiter nach Pune im Bus, Baba hatte Sitzplätze für uns gebucht.

Nun haben wir vier Tage in Pune, besuchen erneut Pallavi und ihre Familie, wollen shoppen, eine Motorradtour ins Deccan-Plateau machen aber auch noch einige Abstimmungen mit Sagar und seinem Bruder Milind (in den USA) zu unserem Projekt vornehmen.

Danach geht es am Donnerstag mit dem Nachtzug nach Goa.

Wir freuen uns auf etwas mehr Unabhängigkeit und viele neue Eindrücke mit etwas mehr Komfort.

Selfies

Also die Selfies der Inder mit uns sind schon eine echte Plage. Es gibt eigentlich keinen Tag, an dem wir ohne einen Selfie auskommen, nur in unserer näheren Umgebung, wo sich inzwischen alle an uns gewöhnt haben, geht es ohne die dauernde Fotografiererei.

Heute hatten wir z.B. insgesamt ca. 10 erfolgreiche und noch weitere 5 abgewehrte Versuche. Einerseits ist das Ganze zu verstehen. Neulich haben uns z.B. zwei Mädchen in einem ziemlich guten Englisch angesprochen, dass wir die ersten “Foreigner” sind, die sie in ihrem Leben zu Gesicht bekommen.

Andererseits ist das Ganze für uns natürlich mega nervig. Aus Spaß habe ich inzwischen angefangen, Geld für die Fotos zu fordern – wir könnten schon reich sein, wenn es klappen würde.

Die Frage nach den Fotos reicht von heimlich (wir werden gefilmt und fotografiert während wir in einem kleinen Straßenlokal essen, wobei sich der Freund des Fotografen möglichst mit auf das Bild mogelt) über übergriffig (man versucht uns buchstäblich an den Armen in Richtung eines Hauseinganges zu zerren, wo dann die ganze Familie schon bereit steht, um sich mit uns auf ein Foto bannen zu lassen) bis hin zu den eher netten Versuchen, die sich wenigstens Mühe geben und nett und höflich fragen bzw. erst am Ende eines kurzen Besuches mit Tee und Lemon Soda.

Leider habe ich das beste Erlebnis in diesem Zusammenhang nicht auf ein Foto gebannt – zum Tempelfest gab es tatsächlich eine Schlange von 10 Frauen und Mädchen, die geduldig darauf warteten, ein Selfie mit Sonja und mir machen zu dürfen.

Darauf hatten wir schon seit längerem hingearbeitet. Ein keiner Ausflug mit Shria. Sie darf als Frau ihre Farm nur verlassen, wenn sie am Wochenende zum Gebet in den Tempel geht. Alle anderen Besuche im Dorf sind ihr untersagt. Allerdings kann sie in Begleitung ihres Mannes Ravie in andere Orte fahren, um dort für sich einzukaufen. Da Ravie jedoch als Farmer „immer“ arbeitet bzw. irgendwo unterwegs ist, sind Ausflüge für sie eine Seltenheit.

Shria ist eine sehr aufgeschlossene, intelligente und wissbegierige junge Frau (28 Jahre alt). Sie spricht nur einzelne Worte englisch, versteht aber sehr viel unserer englischen Kommunikation. Interessiert fragt sie uns über Traditionen, Familie, unsere Reisen und das Leben im Allgemein in Deutschland aus.

Da gerade Ferien sind, sind ihre beiden Kinder bei ihrem Bruder und den Großeltern und es bleibt etwas Zeit für sie selbst. Diese Chance haben wir ergriffen. Unter dem Vorwand, ich brauche Hilfe beim Einkaufen von T-Shirts baten wir sie, uns nach Sangola zum Shoppen zu begleiten. Gemeinsam wollten wir dann auch gleich noch Lebensmittel auf dem Markt einkaufen. Unser Plan ging auf und so sind gestern Shria, Ravie und die 5-jährige Tochter von Ravies Schwester auf dem einen Motorrad und Thomas und ich auf dem anderen Motorrad zum „Großeinkauf“ nach Sangola gefahren.

Im ersten, eher traditionellen indischen Bekleidungsshop ging eine schmale steile Metalltreppe in den oberen Verkaufsraum. Wir mussten unsere Schuhe beim Betreten des Ladens ausziehen und quetschten uns die Stufen nach oben. Dort saßen bereits eine Mutter mit ihrer Tochter und suchte nach Oberteilen. Der Verkäufer, ein kleiner Mann von ca. 1,50 m passte ganz wunderbar in den niedrigen Raum mit den breiten vollgestopften Regalen. Er zog wahllos Plastiktüten mit bunten Oberteilen hervor und warf sie auf den Boden. Zum Anprobieren musste ich mich hinsetzen, da andererseits die Raumhöhe nicht ausgereicht hätte. Wir gaben jedoch nach kurzer Zeit auf. Zu klein, zu glitzernd, zu indisch.

Eigentlich sollte jedoch unser kleiner Ausflug ja auch eine Auszeit für Shria sein, also stoppten wir noch in einem Straßencafé, in dem Milchshakes und Lassies gemixt wurden. Alle waren happy, inklusive des Ladenbesitzers aufgrund unserer Anwesenheit.

Nach dem obligatorischen Markt mit nun durch Shria unterstützten Preisverhandlungen, die uns immerhin 10 Rupien extra einbrachten, stoppten wir an einem Schmuckladen, der sich jedoch im hinteren Gebäudeteil als Friseur- und Kosmetikstudio entpuppte. Jetzt legte Shria los. Eigentlich sollte es nur eine Minute dauern aber Ravi wusste wohl schon dass es dauern würde und macht es sich bequem. Thomas versuchte sich derweil irgendwie zu beschäftigen, da er sowieso nicht in den gesamten Laden durfte: „Nur für Frauen“. Das Aussuchen von ein klein wenig Nagellack und ein paar Bindies (Klebepunkte, die als modisches Acessoire auf die Stirn kommen) dauerte dann über eine Stunde.

Egal – Shria war glücklich. Diesmal war sie die Hauptperson, die von allen im Laden befragt wurde und ziemlich stolz berichtete, dass wir 5 Monate Gäste bei ihr wären. Alle wollten alles ganz genau wissen. Dann folgten die üblichen Selfies.

Die Männer saßen unterdessen draußen und beobachteten das Geschehen auf der Straße. Eine Prozession mit Trommeln und Rasseln sowie zahlreichen tanzenden Frauen und Männern zogen vorbei Richtung Tempel am Ende der Straße. Ein kleiner Junge wurde, ausstaffiert wie für eine Hochzeit, für eine religiöse Initiationsfeier hinter dem tobenden tanzenden trommelnden Tross in einem Auto durch die Gegend gekarrt. Er sah irgendwie ziemlich desinteressiert aus im Vergleich zum restlichen Pulk. Auf dem Rückweg der Truppe vom Tempel wurde Thomas mehr oder weniger gegen seinen Willen mit in die Menge gezerrt. 3 Männer konnte ich ausmachen, die an seinem Arm zerrte, bis er endlich mit dabei war und ein paar bekümmerte Versuche machte, lustig zu sein. Damit er nicht so alleine in der tanzenden Masse verschwand, gab ich mir noch einen Ruck und hüpfte ein wenig mit. Daraufhin waren alle glücklich. Es folgten Hände schütteln und Fotos und der Tross verschwand.

Shria hatte sich in der Zwischenzeit verschönern lassen und hatte nichts davon mitbekommen. Ravi hatte sich heimlich verzogen und uns allein gelassen, was für ein Feigling. Anyway, Shria war glücklich.

Auf dem Rückweg duften wir dann endlich mal einkaufen – Zucker, Sago und Öl in Großhandelspackungen auf einer mittelalterlichen Waage abgewogen. Die Motorräder bis zum Abwinken überladen ging es dann irgendwann heim.

Wir wahren am Ende total durch – aber Shria war glücklich und strahlte. Ein Ausflug mehr in diesem Jahr für sie. Was für ein Erfolg!

Emotionen

Emotionen zu zeigen, ist nicht einfach, das wissen wir alle! Wann und wie zeige ich, dass ich traurig, enttäuscht, wütend, stolz, erfreut, ängstlich oder verliebt bin. Die Vielfalt unserer Emotionen können wir ohnehin gar nicht ausdrücken, wir sind es einfach nicht gewohnt.

Indien ist noch einmal krasser in Bezug auf Emotionen. Hier läuft alles (fast) emotionslos ab. Jemanden drücken oder allgemein freundschaftlich berühren? Völlig ausgeschlossen! Von intimeren Handlungen wie z. B. Händchen halten, Kuss auf die Wange, über den Kopf streichen etc. ganz zu schweigen. Lediglich Männerpaare jedweden Alters, die sich an den Händen halten, sieht man in der Öffentlichkeit. Was jedoch nicht bedeutet, dass sie homosexuell sind.

Auf dem Land hatte ich erwartet, dass man sich freundlich (be)grüßt, da ohnehin jeder jeden kennt und sogar weitläufig innerhalb der eigenen Familie geheiratet wird. Jedoch auf dem Weg ins Dorf werden die Nachbarn, die auf dem Feld arbeiten oder die einem unmittelbar entgegenkommen nicht grüßen. Das macht man nicht, ist nicht üblich! Ein spontanes Foto schießen oder sogar auf einem Foto vor Freude herzlich lachen? Das entspricht nicht dem Schönheitsideal und daher schauen alle immer relativ ernst und posieren, wobei die Arme „an der Hosennaht“ sind.

Gestik und Mimik habe ich bisher auch nur wenig bemerkt, lediglich das zustimmende Kopfschütteln oder das nickende Verneinen. Bei bestehendem Interesse für etwas wird das- oder derjenige durchdringend angestarrt. Für unser Verständnis ist dieses Verhalten absolut unangemessen und grenzüberschreitend.

Es gibt viele Gesten der Ehrerbietung in der Öffentlichkeit wie z. B. den Kopf und damit den Blick senken, mit den Händen die Füße des Gegenübers berühren oder gar vor jemandem auf die Knie sinken sowie die Hände vor der Brust falten. Freudenausbrüche dagegen oder selbst zaghafte Bekundungen von Freude durch ein Lächeln begegnen einem in der Öffentlichkeit nicht.

Allerdings muss ich sagen, dass unterdessen im ganzen Dorf gewunken wird wenn wir kommen oder gehen. Aus Unwissenheit und Unsicherheit haben wir anfangs unser deutsches Verhalten einfach beibehalten und immer eine Hand zum Gruß gehoben und nun ist Winken angesagt.

Verärgerung zwischen zwei Parteien bekommt man am ehesten und unmittelbar mit: es wird dann richtig laut und richtig schnell gesprochen. Die Tonlage der Stimmen bekommt etwas hysterisches und sie scheinen sich zu überschlagen. Genau so schnell wie der Ausbruch kommt, ist jedoch auch wieder totale Ruhe zwischen den Gesprächsparteien. Alle schweigen sich an und gehen gemeinsam wie gewohnt ihren Aktivitäten nach, als wäre nichts gewesen. Schmollen oder sich aus dem Weg gehen, geht nicht. Es wohnen ja alle miteinander oder zumindest eng beieinander.

Es ist sehr schwer im Alltag unter eigener Anspannung wahrzunehmen, ob der jeweilige Gesprächspartner über das Gesagte erfreut oder verärgert ist. Manchmal habe ich schon gedacht, die könnten sich doch jetzt mal freuen, das Problem hat sich geklärt oder unser Projekt ist doch sehr erfolgreich. Jedoch kommt keine entsprechende Reaktion. Das verunsichert mich immer wieder.

Ich kommuniziere mit Gestik und Mimik, um mich bei allen nicht englisch sprechenden Personen trotzdem verständlich zu machen. Dabei wirke ich wahrscheinlich wie eine Schauspielerin und zaubere unterdessen sogar bei Tatja ein erkennbares Lächeln ins Gesicht.

Integration

Wie schnell geht Integration? Ab wann ist man woanders integriert? Diese Frage habe ich mir in den letzten Tagen oft gestellt.

Wir sind nun zwei Monate hier auf dem Land. Ein gewisser Alltag ist für uns unterdessen eingetroffen. Wir gehen selbstverständlich Kleinigkeiten in der Stadt einkaufen. Wir haben dort „unsere“ Geschäfte wo wir versuchen, mit den Besitzern etwas zu kommunizieren. Im Dorf suchen wir auch unterdessen fast täglich ein „Restaurant“ auf, in dem wir was essen und kalte Getränke bestellen. Immer die gleichen Abläufe, das gibt Sicherheit für beide Seiten und ermöglicht das Kennenlernen. Trotz der Spachschwierigkeiten ergibt sich dann immer irgendwie ein Austausch. Wir versuchen offen und interessiert zu sein, fragen nach, bringen einzelne Worte in Hindi mit unter, zeigen private Fotos und bieten im Alltag unsere Hilfe an. Eigentlich alles gute Voraussetzungen für Integration. Trotzdem sind wir in vielen Situationen außen vor. Es ist halt doch keine Unterhaltung, kein richtiges Gespräch mit den Einheimischen möglich. Die kulturellen Unterschiede muss ich gar nicht erst erwähnen.

Und trotzdem sind wir der Meinung, dass nicht alles immer nur mit der Sprache und mit den Kulturunterschieden „entschuldigt“ werden kann. Es ist die einzelne individuelle Persönlichkeit, die Integration möglich oder unmöglich macht. Nicht die Leistung, die eine Gesellschaft Fremden anbietet, damit sie sich integrieren können. Grundwerte wie z. B. Achtung voreinander, Aufmerksamkeit für den anderen, Wertschätzung der Bemühungen oder der Arbeit des anderen tragen zur Integration bei.

Bei aller Freude über unser Dasein und bei aller Neugierde, uns Fremde kennenzulernen, spüren wir doch auch die Oberflächlichkeit, die all den Fragen teilweise zugrunde liegt. Nur vereinzelt geht das Interesse (an uns) tiefer. Nur selten haben wir das Gefühl, dass unser Anderssein anregt, sich persönlich zu verändern. Bei uns hingegen kommen täglich kleine neue Erfahrungen hinzu, die wir gern in unseren Alltag versuchen wollen, zu integrieren.

Wir machen bereits jetzt schon Pläne, wie wir bestimmte Verhaltensweisen in Deutschland „übernehmen“ oder angepasst einsetzen können. Die Pläne sind noch nicht ganz ausgereift aber wir reifen hier jeden Tag ein klein wenig mehr.