Am Sonntag Nachmittag sind wir mit Pallavi unverhofft in eine für uns alle recht unangenehme Situation gekommen.
Nachdem wir in der Schule auf den Tischler und den Elektriker gewartet hatten, die beide schon längst versprochene Reparaturarbeiten ausführen wollten, sollten wir ins Dorf gehen. Im Haus von Ana, dem 2. Bruder der Babar-Familie erwartete uns dann eine höchst offizielle Heiratsanbahnungszeremonie (was für ein Wort!). Wir erfuhren, dass heute die Eltern eines Heiratsbewerbers zu Besuch da sind und dass Sarita, die 22 jährige Tochter der Babarfamilie, in ihrem Wohnumfeld „begutachtet“ werden soll. Anders kann man die Situation nicht beschreiben. Die gesamte Babar-Familie war anwesend und selbstverständlich die Eltern des Heiratskandidaten, der junge Mann selbst jedoch nicht. Alle Frauen hielten sich separat im hinteren Teil des Hauses, der Wohnküche, auf und nur Pallavi und ich durften neben den männlichen Familienangehörigen auf einer gelben Matte auf dem Boden sitzen.
Der Vater des Heiratsbewerbers thronte im Schneidersitz auf dem einzigen Metallbett im Raum. Es war eine komische Atmosphäre. Niemand sprach, nur betretenes Schweigen. Wir warteten und warteten und warteten…immer kam noch ein weiteres Familienmitglied( Onkel, Cousin, Schwager) dazu, blieb eine Weile und verschwand wieder. Es wurde Wasser in bauchigen Metallkrügen gereicht. Ich konnte es leider nicht trinken, da ich immer die Hälfte verschütte. Man darf beim Trinken nämlich nicht den Flaschenhals oder den Becher mit dem Mund berühren. Also weiterhin dursten!
Die Männer begannen Zeitung zu lesen, weiterhin minutenlanges Schweigen! Plötzlich kam Sarita in den Raum in einem traumhaften rot-goldenen Sari, den Kopf bedeckt. Sie nahm auf einem Stuhl in der Mitte des kleinen Raumes Platz. Der potentielle Schwiegervater fragte förmlich : „Wie heißt du?“ Sarita antwortete mit Vor- und Nachname und war dabei so aufgeregt, dass sie die ganze Zeit nur auf den Fußboden blickte. Der Sari rutschte ihr ständig vom Kopf, sie konnte ihn nicht korrekt festklemmen. Ich fühlte mich furchtbar bei diesem Anblick. Es war deprimierend, eine junge schöne Frau so vorgeführt zu bekommen. Aber Tradition ist Tradition. Auch für Pallavi war es mehr als unangenehm, da sie vor wenigen Wochen selbst noch in dieser Situation war und sie sich daher auch sehr gut in Sarita hineinversetzen konnte.
Es begann eine Zeremonie, die nur von den Frauen ausgeführt wurde. 4 Frauen (Mutter, mögliche Schwiegermutter, Schwägerin und Tante) segneten nacheinander Sarita mit je einem roten und orangefarbenen Tupfer zwischen die Augenbrauen. Heute habe ich erfahren, was es mit den Farben auf sich hat. Die Farbe bezeichnet die Gottheit zu der gebetet wird oder deren Segen man erhält. Rot ist Lakshmi, die Göttin des Wohlstandes. Orange ist Ganesh, der Elefantengott des Glückes und pink steht allgemein für Gottheit.
Sarita musste bei der möglichen Schwiegermutter die Füße als Zeichen der Ehrerbietung berühren. Eine andere Frau hielt ein Metalltablett mit Kokosnuss, Reis und Tamarind vor sie hin und dieses musste von ihr im Uhrzeigersinn geschwenkt werden. Danach verließen alle Frauen nacheinander wieder den Raum und wir warteten und warteten und warteten. Ich konnte schon nicht mehr im Schneidersitz sitzen. Eine Stunde war unterdessen vergangen. Nunmehr wurden die Kochkünste von Sarita durch die potentielle Schwiegermutter überprüft bzw. ihr Verhalten in einer alltäglichen Situation. Sie musste süß-salziges Limettenwasser für uns alle zubereiten und anschließend noch Poha (Reisflocken mit gerösteten Erdnüssen, Kokosraspeln, scharfen Gewürzen und frischem Koriander) für 10 Personen servieren.
Finden die Eltern des Heiratskandidaten Sarita und das Wohnumfeld gut, dann bekommen Saritas Eltern eine Gegeneinladung in das Elternhaus des jungen Mannes. Stimmen dann auch Saritas Eltern der Verbindung zu, wird ein Kontrakt aufgesetzt, in dem steht, was die Braut nach der Hochzeit alles für Pflichten hat. Meist sind das:
- Versorgung der Schwiegereltern
- ggf. Versorgung anderer Verwandter im Haushalt des Mannes
- Kindererziehung
- Haushaltsführung
- Verbot, den örtlichen Markt aufzusuchen (das ist z. B. eine Regel in Alegaon für zugezogene angeheiratete Frauen
- Unterstützung in der Landwirtschaft
Somit macht die Frau eigentlich alles! Also ich werde mich nicht mehr so schnell aufregen, wenn die Pflichtenverteilung im Alltag bei uns nicht ganz meinen Vorstellungen entspricht.
Nach einer weiteren halben Stunde kam endlich durch Baba das Zeichen zum Aufbruch nach Pune. Thomas und ich fuhren mit dem Motorrad nach Sangola. Baba folgte mit Pallavi im öffentlichen Linienbus und wir trafen uns am Busbahnhof. Durch die Zeremonie waren wir 1 Stunde später als geplant losgekommen. Da war es wieder, das indische Zeitverständnis. Noch immer regen mich solche unkommunizierten Aktionen, in denen man von anderen abhängig ist furchtbar auf. Bringt aber nix!