Kulturschock Delhi

…nein, das ist nicht am Potsdamer Platz. Wir sind 1 Woche zu Besuch bei Freunden in Delhi. Jaya und Abhishek wohnen mit ihrem 6-Monate alten Sohn in Gurgaon, einer “kleinen” Satellitenstadt mit ca 1,5 Mio Einwohnern am Rande von Delhi (so wie wir in Friedrichshagen/Berlin wohnen). Dort haben sie eine Eigentumswohnung mit zwei kleinen Balkonen und einer Terrasse in der 14. Etage. Sie leben ohne die typische Anbindung an die Herkunftsfamilie des Mannes.
Der gesamte Wohnkomplex besteht aus 3 riesigen Hochhäusern mit je 18 Etagen (die 13. Etage fehlt allerdings auch hier). Auf jeder Etage gibt es 4 Wohnungen. Somit leben dort 216 Familien auf relativ engem Raum. Um die Vereinbarkeit von Job und Familie zu erleichtern, gibt es in dem Komplex einen Kindergarten, ein Fitnessstudio und einen kleinen Swimmingpool. Ausserdem befindet sich nur 5 Minuten fußläufig ein ähnlich grosser Bürogebäudekomplex, in dem die wichtigsten Firmen wie z.B. Eriksson, TATA Motors, Samsung, IBM etc. ansässig sind. Ist ein Elternteil bei einer dieser Firmen angestellt, können die Büroräume auf Nachfrage dort genutzt werden. Lange Fahrtwege mit dem Auto oder mit der U-Bahn zu den eigentlichen Büros in der City entfallen dann möglicherweise. Das persönliche Lebensumfeld der Familien ist aus unserer Wahrnehmung dadurch extrem eingeschränkt. Die Familien können jedoch Karriere und Kinder leichter unter einen Hut bringen wenn beide Eltern Vollzeit tätig sein möchten, es ist ja alles in unmittelbarer Nähe vorhanden. Allerdings muss man einen der begehrten Kita-Plätze oder eine der bevorzugten Büronutzungsoptionen mit etwas Glück erst einmal bekommen.
Das Ganze ist für uns eher bedrückend. Im Umkreis von mehreren Kilometern um die so genannten “Gated/Living Societies” ist erst einmal nix. Gar nix! Nur Betonwüste. Zum nächsten U-Bahnhof fährt man 12 km. Einkaufsmöglichkeiten findet man in 30-minütiger Autofahrtentfernung. Wenn man Glück hat, steht man nicht im Stau mit den vielen anderen „Society-Bewohnern”, die sich auch auf den Weg machen müssen.
Von solchen “Gated/Living Societies” gibt es in Delhi viele Komplexe nebeneinander, die ähnlich ausgestattet sind und die ebenso von zahlreichen Sicherheitsleuten bewacht werden. z.B. werden am Eingang alle Fahrzeuge überprüft, jeder Kofferraum wird beim Rein- oder Rausfahren geöffnen. Dann gibt es einen Pförtner mit Registrierungsbuch für Gäste und Besucher. Auch Parkplatzwächter in der Tiefgarage und Fahrstuhlboy sind angestellt. In der Lobby werden tagsüber Paketsendungen vom Sicherheitspersonal entgegengenommen und abends an die Bewohner übergeben. Komplettservice für die Familie! Trotzdem fühlen wir uns nicht richtig wohl, es ist zu ungewohnt. In gewisser Weise sind wir ausgeschlossen vom “wirklichen Leben”. Obwohl der Ausblick von der 14. Etage sehr beeindruckend ist. Man sieht erstaunlicherweise doch viel Natur: grüne Felder und kleine Waldstücke, die jedoch durch eine Betonmauer von der Society abgegrenzt sind. Daher befindet man sich in einer sehr eingeschränkten kleinen eigenen Welt, die einem viel bietet und trotzdem nix hat. Ein erneuter Widerspruch in Indien!

In Alegaon war unsere Lebenswelt auf einfachem Niveau eingeschränkt aber hier in Delhi ist die Begrenzung unseres Lebensraumes ebenso gegeben nur mit einem,höheren Standard. Wir sind es eher gewohnt und lieben es, uns frei und in einem vielfältigen Umfeld mit allem, was man im Alltag so gern hat an Kunst, Kultur, Einkaufsmöglichkeiten, Bildungseinrichtungen, Institutionen für Gesundheit und Sport, Parks und gastronomischen Einrichtungen zu bewegen. Das ist für uns Lebensqualität, die wir hier in Gurgaon während unseres einwöchigen Besuches vermisst haben. Eigentlich hatten wir gar nicht erwartet, das alles zu vermissen, bei dem guten Standard, den die Wohnungen haben. Gibt es auf dem Land die Beschränkungen durch die ausgeprägte Armut, nehmen wir bei der Mittelklasse (am Beispiel unserer Freunde und Bekannten) einen unheimlich verengten Fokus auf das Materielle war. Fast alle Gespräche drehen sich um Eigentumswohnung, Auto, Technik jeder Art und sehr ausgeprägt um die Arbeit. Letztere finanziert selbstverständlich den aktuellen oder angestrebten Lebensstandard. Von Kultur, Freunden oder Freizeitaktivitâten ist (fast) nicht die Rede. Persönliche Gespräche werden für uns daher schnell einseitig und auch ein wenig langweilig mit diesen Themen und haben mit den restlichen 99% von Indien, die in Armut leben, so gar nichts zu tun.

Wir sind viel unterwegs, um uns einige Sehenswürdigkeiten ( Qutab Minar, Rotes Fort, Präsidentenpalast) anzuschauen und auch noch eine andere langjährige Freundin zu besuchen. Auf dem Weg zu ihr entdecken wir “Connaught place” und “Chowk Baoli” mit vielen Läden, Cafes, Marktständen und lassen uns von Gerüchen (ver)treiben und von tollen Lederwaren anziehen. It’s shopping time!

Eine weitere langjährige Freundin lebt direkt in der Innenstadt von Delhi, in einer kleinen Mietwohnung. Eine Etage über ihr wohnt ihre Mutter mit einer ihrer Schwestern in einer Eigentumswohnung. Surbhi hat vor ein paar Monaten zum zweiten Mal geheiratet. Eine Scheidung ist in Indien selbst für die gebildete Mittelschicht in der Hauptstadt noch ein kleines Drama und setzt die Familie sozial unter Druck. Eine Frau muss bis zu einem bestimmten Alter verheiratet sein. Mit dem Support der Herkunftsfamilie kann eine junge, geschiedene Frau jedoch immerhin 2-3 Jahre ihre Situation verarbeiten und ihr Leben neu ausrichten. Auf dem Land (siehe unseren Artikel zu Rupali) führt eine Trennung noch zu sozialer Ächtung.
Junge indische Frauen aus der Mittelschicht ergreifen unterdessen selbst die Heiratsinitiative, indem sie sich auf Onlineportalen anmelden und die einzelnen Kandidaten an öffentlichen Plätzen daten. Die Männer werden bei diesen Treffen in Gesprächen nach einer “Checkliste” überprüfen (Höhe ihrer Schulden, Höhe des Einkommens, evtl. Gründe einer vorherigen Trennung usw.) Maximal 6 Monate können/sollten sie sich jedoch mit einem Mann zum besseren Kennenlernen treffen, um nicht ins Gerede zu kommen. Danach ist der Druck, eine Entscheidung zu treffen, enorm hoch. Im positiven Fall erfolgt eine gegenseitige Vorstellung bei den jeweiligen Eltern, um die formale Zustimmung zu erhalten. Danach geht wieder alles mehr oder weniger den traditionellen Gang.
Das alles ist wohlgemerkt ein Privileg der städtischen Mittel- und Oberschicht und auf keinen Fall auf dem Land zu finden.

Gott was sind wir froh, in gesellschaftlicher Freiheit zu leben, persönliche Entscheidungen treffen zu können, wann immer wir uns dazu in der Lage fühlen. Ein wohlwollendes, liebevolles soziales Umfeld bestehend aus Familie, Freunden und Bekannten ist das Wichtigste im Leben und trägt so unwahrscheinlich zur Lebensqualität und zur persönlichen Gesundheit bei.

Tausend Dank von ganzem Herzen an all unsere Lieben und an euch alle, die diesen Blog lesen. Ihr unterstützt uns jeden Tag aufs Neue, macht euch Sorgen um uns, beratet uns und kritisiert uns (falls nötig)! Wir vermissen euch so sehr!

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