Florence

Florence ist 28 Jahre alt, blind und hat eine 7- jährige Tochter, die sie allein erzieht. Aufgewachsen ist sie in einem abgelegenen Dorf in der Nähe von Kigali im Haus ihrer Stiefmutter.

Im Zusammenhang mit dem „Dare to Dream Fond“ wollte Beth und ihre NGO „Seeing Hands Rwanda“ die unglaubliche und dramatische Lebensgeschichte dieser jungen Frau und ihrer Tochter über die Medien in Rwanda bekannt und dadurch auf die Lebensumstände von Menschen mit besonderen Bedürfnissen aufmerksam machen. Gabriella, Beth und ich fuhren in Begleitung eines Kameramannes in das Dorf und begleiteten Florence und ihre Tochter auf einem ihrer Alltagswege. So erfuhren wir hautnah von ihrer bedrückenden Lebensgeschichte.

Die Tochter von Florence ist das Kind ihres Cousins. Er hatte sie zu einer intimen Beziehung genötigt, nachdem sie bei ihm Schutz vor den handgreiflichen Attacken ihrer Stiefmutter gesucht hatte. Täglich musste Florence Feuerholz und Wasser vom Fluss holen. Kam sie nicht mit ausreichend von beidem und rechtzeitig zurück, wurde ihr von der Stiefmutter das Essen verweigert.

Um trotzdem überleben zu können, bewirtschaftete Florence ein kleines abgelegenes Stück Ackerland. Ihre kleine Tochter, damals noch ein Baby, war stets um sie herum. Eines Tages geschah das Unerwartete und trotzdem Vorhersehbare. Florence traf mit der Feldhacke ihre auf dem Boden krabbelnde Tochter am Kopf und verletzte sie schwer. Es kam aus dem Dorf jedoch keine Hilfe und niemand begleitete sie zum lokalen Gesundheitszentrum im Nachbarort. So eilte Florence allein mit ihrem verletzten Baby vom Feld zur Notversorgungsstation, wo die Tochter behandelt wurde. Die Narbe ist heute noch deutlich sichtbar. Gott sei Dank sind keine dauerhaften Schäden bei dem Mädchen zurückgeblieben.

Der Weg, den Florence mit Holz auf dem Kopf balancierend und mit einem 20 Liter Kanister voll Wasser bewältigen musste, ist kein normaler, einfacher und gerader Weg. Es ist ein Weg, den Thomas und ich als Trekkingtour laufen würden. Er verläuft vom in der Hochebene gelegenen Dorf tief in das Flusstal hinab. Ein Auf- bzw. Abstieg von ca. 150 Metern. In der Regenzeit, und so auch bei unserem Besuch, ist der Weg schlammig und rutschig, die Abhänge teilweise ausgespült, steil und steinig. Diesen Pfad zum Flussbett hatte Florence barfüssig einmal täglich absolvieren müssen, um sich somit ihren Aufenthalt im Haus der Stiefmutter zu verdienen. Keine Menschenseele im Dorf hatte es all die Jahre interessiert, wie das Leben von Florence aussah. Blinde gelten in den dörflichen Strukturen der Einheimischen als verfluchte Menschen, die man unbedingt meiden sollte.

Für mich war die Landschaft, die uns umgab sehr beeindruckend. Dicht bewachsene Berghänge, kleine Rinnsale am Wegrand, die sich im Tal zu einem schmalen Fluss vereinten. Ganz wunderbare Fotomotive. Doch verbunden mit dieser natürlichen Schönheit, ist gleichzeitig die menschliche Grausamkeit, der Florence ausgesetzt war.

Vor einem Jahr wurde sie beim Wasserholen von einem Mann vergewaltigt. Er war aus dem Nichts mit 3 wilden Hunden in Begleitung erschienen. Die Tochter hatter er mit einer Machete bedroht und zum Schweigen gezwungen. Als Florence mit monotoner Stimme detailliert berichtete, rannen ihr Tränen übers Gesicht und ihre Tochter ergriff schweigend die Hand ihrer Mutter.

Von dem grauenhaften Vorfall sichtlich gezeichnet kam Florence an dem Tag nach Hause und wurde von ihrer Stiefmutter lediglich aufgefordert, sich ordentlich anzuziehen, sie sehe ja furchtbar aus! Auch der „Sektorverantwortliche“ und Dorfvorsteher reagierten nicht, als Florence ihnen alles berichtete. Ein Versagen der hierarchischen Struktur, die noch immer auf den abgelegenen Dörfern besteht und die eigentlich zum Schutz der Dorfbewohner installiert wurde. Die staatlichen Organe in der Hauptstadt sind zu weit entfernt, um in Notsituationen einzugreifen. Jedoch zeigt sich nicht nur strukturelles sondern auch menschliches Versagen, was für uns Muzungus in unserem demokratischen Rechtsstaat unvorstellbar ist.

Ich konnte den Bericht von Florence nicht vollständig mit anhören. Ich war zu ergriffen und musste mich kurze Zeit von der Gruppe entfernen. Tief getroffen und hilflos fühlte ich mich bei dem persönlichen Bericht der Opfer. Als Florence auch noch vom Missbrauch ihrer Tochter durch einen Jungen im Dorf berichtete, war für mich das Ende des Ertragbaren erreicht.

Wie dokumentiert man eine solche Lebensgeschichte und bringt sie in die Öffentlichkeit, ohne die dörfliche Gemeinschaft und die Ruandische Gesellschaft allgemein zu verurteilen? Es gibt Gründe, weshalb die Gemeinschaft so reagiert hat, wie sie reagiert hat. Fehlende Bildung und unzureichende Aufklärung! Wen klagt man dafür an? Steht es uns als „helfendes System“ zu, so offen bestehende Missstände aufzuzeigen? Ist das der richtige Weg, um zukünftig Unterstützung für Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu bekommen? Würden wir u. U. mit einer Veröffentlichung das Leben von Florence und ihrer Tochter noch weiter verschlimmern und Racheakte heraufbeschwören? Mir gingen tausend Fragen durch den Kopf und ich hatte keine Antworten. Florence würde hoffentlich über alle möglichen Konsequenzen und Auswirkungen der Veröffentlichung aufgeklärt werden und auch die abschließende Entscheidung darüber haben, was und ob überhaupt etwas von ihrer Lebensgeschichte veröffentlicht wird.

Unterdessen war es bereits 18 Uhr und wir waren noch im Dorf mit dem zuständigen „Sektorverantwortlichen“ verabredet. Er würde uns über die Statistik und über die tatsächliche Zahl der Menschen mit besonderen Bedürfnissen informieren. Darauf sollten dann die späteren Unterstützungsprojekte abgestimmt werden.

In einem privaten Haus im Zentrum des Dorfes hatten sich unterdessen ca. 40 Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen versammelt und warteten auf unser Kommen. Es hatte sich herumgesprochen, dass Muzungus eintreffen und Lebensmittel verteilen wollten. Beth hatte uns aus ihren Erfahrungen darauf aufmerksam gemacht, ausreichend Lebensmittel mitzunehmen. So konnten wir 50 kg Reis und 50 kg Bohnen verteilen. In diesen abgelegenen dörflichen Strukturen ist bis heute die Versorgung mit ausreichenden Lebensmitteln nicht immer sichergestellt.

Florence lebt unterdessen seit 3 Monaten im Haushalt von Beth hier in Kigali. Als wir uns gegen 20 Uhr von ihr verabschiedeten, versicherte sie mir, dass sie uns ihr Dorf unbedingt hatte zeigen und alle damit verbundenen Erinnerungen präsentieren wollen. Bisher hätte sich niemand für ihre Geschichte und die Wahrheit interessiert. Nun sei sie dankbar, alles erzählen zu können. Darüber zu sprechen, helfe ihr zu verarbeiten, zu vergeben und mit ihrem Leben fortzufahren.

Ich hoffe inständig, dass sie und wir den richtigen Weg der Auseinandersetzung gehen.

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