Wiedersehen in der Schule

Nach reichlich einem Jahr haben wir nun auch die „Dnyanankur English Medium School“ in Alegaon wieder besucht. Da vier Lehrer aufgehört und dafür zwei Lehrerinnen sowie ein Lehrer neu angefangen haben, war das Wiedersehen ein Mix aus alt und neu. Es hat gutgetan, unseren Einfluss bzw. die Auswirkungen unseres Arbeitens in der Schule auch heute noch wiederzukennen.
Der Stauraum für Unterrichtsmaterialien mit den stapelbaren roten Gemüse-Vorratskisten aus Plastik hat sich bewährt und wird weiterhin genutzt. Die Schule hat einen Innenputz sowie einen farbigen Außen- und Innenanstrich bekommen. Alles ist nun hell und freundlich und nicht mehr betongrau. Dadurch konnten die Wände nun auch besser von den Lehrerinnen mit optischen Lerninhalten gestaltet werden. Einige der Lehrer*innen sind im Zeichnen richtig talentiert. Allerdings hat keiner daran gedacht, wasserfeste Wandfarben zu nutzen. So verwischen leider einige der Wandzeichnungen in der Regenzeit. Egal, der Wille und die Bereitschaft zählen und beim Restaurieren nach der Regenzeit werden hoffentlich dann wasserfeste Farben besorgt. Aus Erfahrungen kann man ja lernen!
Auch unsere gemeinsam mit den Lehrern hergestellten großen Pin-Wände werden weiterhin mit Unterrichtsmaterialien für die entsprechende Klasse bestückt. Die gesamte Technik (3 PC, 1 Drucker, Google drive etc.) ist allerdings verschwunden. Das liegt jedoch daran, dass unsere Empfehlung, die Schule von 8 Klassen auf nur 5 Klassen zu schrumpfen, umgesetzt wurde. Die aufwendigere 6. bis 8. Klasse mit Laborraum für chemische und physikalische Experimente wurden umgeschult und auch die Erweiterung um die Klassenstufen 9 und 10 mit dem vorhandenen Lehrkörper wurde verworfen. Unser Vorschlag, in „Schichten“ Unterricht anzu-bieten, um die Räume und die Schulbusse besser auszulasten und dadurch auch den größeren Schülern eine Möglichkeit zum Lernen zu geben, wurde in Betracht gezogen. Nun wird das Konzept zum kommenden Schuljahr mit externen Lehrern aus Sangola umgesetzt. Diese werden nicht zur Dnyanankur English Medium School gehören, sondern mieten sich in die Räume der Schule ein. Somit gibt es in Alegaon nun doch auch die höheren Schulklassen, jedoch durch eine Kooperation. Das freut uns ganz besonders, da Kooperationen traditionell nicht üblich sind. Lieber kocht jeder sein Süppchen und wenn man nicht weiterkommt, muss man halt aufgeben. Nur nicht um Hilfe fragen oder sich mit Nachbarn oder Konkurrenten inhaltlich austauschen, abstimmen oder zusammentun.

Des Weiteren wurde einer der klapprigen Schulbusse abgeschafft. Stattdessen sind nur noch zwei relativ gut erhaltene und ein neuer Schulbus im Einsatz. Die Schulbusrouten wurden ebenfalls nach unseren Vorschlägen umgestellt bzw. angepasst. Auch das Schul- und Busgeld wurde um einige indische Rupien erhöht, so dass auch dadurch etwas mehr Spielraum für Instandhaltungen, Ausgestaltung der Räume und Unterrichtsmaterialien vorhanden ist. Die Lehrer wurden im ver-gangenen Jahr erstmalig regelmässig monatlich bezahlt. Es gab keine ausstehen-den Gehaltszahlungen. Dafür sind sie uns unendlich dankbar. Soviel Nachhaltigkeit hatten wir gar nicht erwartet und daher waren wir natürlich umso erfreuter zu sehen, dass die mit und durch uns so intensiv diskutierten Ideen aufgegriffen und teilweise umgesetzt wurden.
Zum Abschied standen alle Lehrer*innen, Helfer und Fahrer auf dem Schulhof und winkten uns zu. Wir hatten einen großen Beutel selbst gebackene Diwali-Süßigkeiten mitbekommen und alle freuten sich über unser Versprechen, (allerdings ohne konkrete Zeitangabe) wiederzukommen.

Wasserpark Akluj

Um Shriya ein wenig die Sorgen vergessen zu lassen, sind wir am zweiten Tag mit ihr und allen 4 Kindern nach Akluj in einen Freizeit- und Wasserpark gefahren. Der Ort liegt zwar nur 60 km von Alegaon entfernt, es dauert jedoch 2 Stunden mit dem Auto bis dorthin, aufgrund der extrem schlechten Straßenverhältnisse. An diesem Tag gab es auch noch Straßenüberschwemmungen, da es in der Nacht zuvor enorm geregnet hatte.
Eigentlich ist gerade Trockenzeit aber der Klimawandel ereilt einen in der ganzen Welt! Mit allen Umwegen und Umfahrungen der Überschwemmungsgebiete waren wir nach 3 Stunden endlich da.

Die Kinder waren bei Ankunft in dem Freizeitpark total aus dem Häuschen.
Sie kreischten und überschlugen sich förmlich beim Sprechen und Herumrennen. Überall sollten wir Fotos von ihnen machen mit Figuren, Tieren oder Spielzeugen, die verstreut auf dem Gelände herumstanden und genutzt werden konnten. Wir starteten unseren Aufenthalt mit einem recht umfangreichen Mittagessen. Die Kids trugen stolz ihre Tabletts zum Tisch und luden sich die Schalen voll mit Curry, Dal und immer neuen Puri (weiches Fladenbrot) oder Papadam (crispy Linsenfladen). Sie aßen, als ob es am nächsten Tag gar nichts mehr geben würde. Vermutlich freuten sie sich über die Abwechslung, denn auf der Farm ist das Essen im Alltag dann doch recht eintönig und Chapati findet außer uns keiner mehr lecker. Auch Shriya freute sich darüber, mal nicht selbst kochen zu müssen und die Vielfalt einfach nur genießen zu können.

Nach dem Essen wurden sämtliche Karussells, Scooter, Achterbahn und alles
sich sonst irgendwie Drehende, Schaukelnde und Wippende von den Kindern ausprobiert. Auch Shriya fuhr mit Thomas zum ersten Mal Achterbahn. Das Highlight war jedoch der Wasserpark, ein Außenschwimmbad mit Rutschen und Fontaines. Es gab einen separaten Badebereich für Jungen und für Mädchen.
Am Eingang mussten wir für alle Kinder Badesachen ausleihen, die für die Mädchen aus einer knieumspielenden Leggings und einem kurzärmeligen längeren Oberteil bestanden. Jungen tragen längere Badehosen.
Es durften jedoch nur die Kinder in den Badebereich, der von Security überwacht und vom Wasserpark-Personal beaufsichtigt wurde. Erwachsene konnten sich in einem separaten Schwimmbereich vergnügen, wobei nur wenige Inder tatsächlich schwimmen können und daher auch dieser Bereich eher ein Bade- als ein Schwimmbereich war. Darauf wollten wir gern verzichten. Ich begleitete also die 3 Mädchen in den Umkleide- und danach in den Badebereich. Die 4-jährige Surija begann zu weinen und wollte nicht ins
Wasser. Also alles wieder retour. Thomas kümmerte sich unterdessen um Arush. Auch er wollte anfangs nicht allein sein, bekam aber vom Personal die Erlaubnis mit seinen Schwestern im gleichen Becken zu toben. Shriya zog sich mit Ohm in den „Mutter-Ruheraum“ zurück und wollte ein wenig schlafen.
In dieser Kombination mit allen Verständigungsproblemen, denn die Kinder sprechen kein Wort englisch, waren wir natürlich die am Beckenrand stehenden Exoten und wurden von allen bestaunt, um Fotos gebeten und über den Grund unseres Besuches befragt. Der Wasserpark wird
in dieser Abgeschiedenheit in Maharashtra wirklich nur von einheimischen Familien besucht und nie zuvor wurde ein Europäer hier gesehen. Was für ein Spass!

So tobten die Kids fast eine Stunde gemeinsam im Wasser, während wir Erwachsenen einen Kaffee auf der angrenzenden Gartenterrasse tranken. Ich
schunkelte Ohm in den Schlaf, Shriya konnte ein wenig durchatmen und später mit Thomas und den Kids ein Eis essen. Anschließend machten wir noch eine kurze Bootsfahrt auf einem kleinen See mitten im Gelände des Freizeitparks. Begeistert beobachteten die Kids wilde Gänse und am See-Ufer stehende Tierattrappen wie z. B. Elefanten, Tiger und Giraffen. Für sie ein einmaliges Erlebnis!

Völlig geschafft aber mit überglücklichen Kindern und einer lachenden Shriya fuhren wir am späten Nachmittag wieder zurück. Unterwegs hielten wir noch in Akluj, trafen kurz die Söhne von Shriyas ältester Schwägerin und aßen gemeinsam in einem Straßenrestaurant das von Thomas besonders geliebte „Pav Bhaji“, weiches Weißbrot zum Einstippen in eine zerkochte, scharf- gewürzte Tomatengemüsebreimasse. Dazu gibt es geschnittene Zwiebeln und Limetten-stücke….hmmmmm!

Mit vollem Magen ging es nun noch zum Shoppen, denn Sai sollte für die anstehen-de Hochzeit ihres Grosscousins, Shripad, im Dezember dieses Jahres in Alegaon ein neues Kleid bekommen. Nach 30- minütiger Suche in einem kleinen Laden, gab Shriya jedoch auf. Weder Größe noch Farbe waren zu ihrer und Sais Zufriedenheit.

Nun aber Heimfahrt! Uns standen noch mindestens 1,5 Stunden Autofahrt bevor. Vor 20 Uhr würden wir Alegaon ohnehin nicht erreichen und es wurde bereits dunkel. Ich hatte Ohm im Arm, er schlief und schniefte friedlich vor sich hin. Als er plötzlich erwachte, begann er jedoch lauthals zu weinen und zu schreien. Es half nichts: kein Stillen durch Shriya, kein Singen, kein Streicheln und Schunkeln, gar nichts half. Shriyas Handlungen wurden immer verzweifelter. Sie schüttelte den Kleinen, drehte ihn hierhin und dahin, hob ihn hoch und legte ihn wieder ab, bedeckte ihn mit ihrem Sari. Keine Verbesserung! Shriya hatte Ohm mittags Kuhmilch gefüttert, während wir unseren Kaffee damit tranken. Ich vermutete daher, dass Ohm diese Milch nicht vertragen und nun leider Bauchkrämpfe hatte.

Shriya war am Ende ihrer Nerven. Das Innenlicht im Auto musste angeschaltet und Ohm in das funzelige Licht gehalten werden, um nächtliche „böse Geister“ zu verteiben. Staunend verfolgten wir das weitere Geschehen. Ich fragte Shriya schließlich, ob ich den Kleinen halten solle, damit sie ein Gebet sprechen könne. Richtige Frage und damit passendes Hilfsangebot! Sie überreichte mir erleichtert den schreienden Säugling und begann monoton zu murmeln. Dabei ließ sie eine Limette über den Kopf von Ohm kreisen und bestrich mit der Frucht seine
Stirn. Anschließend wurde das vordere Fenster auf der Fahrerseite geöffnet und die Limette an den Fahrer übergeben. Der machte eine Handbewegung, als wolle er die Limette aus dem Fenster werfen, gab sie jedoch an Shriya zurück und alles begann von vorn. Unterdessen massierte ich den kleinen Bauch von Ohm und hoffte, meine Vermutung bezüglich der Milchunverträglichkeit würde sich dadurch klären. So erreichten wir Alegaon und hielten umgehend erst einmal in der Dorfmitte am Tempel. Ohm hatte sich unterdessen ein wenig beruhigt. Völlig aufgelöst nahm Shriya ihr Kind und ging unverzüglich zum Gebet. „Das Böse“ sollte endgültig vertrieben und Ohm beruhigt werden. Es funktioniert und Shriya war zufrieden.

Es war für uns total erstaunlich zu erleben, wie intensiv der Glaube und auch der Aberglaube Menschen in der heutigen Zeit noch in ihrem Handeln beeinflussen. Als ich am nächsten Morgen mit Shriya in der Küche sass, Ohm auf meinen Knien liegend, und fragte, wie es ihr und Ohm ginge, antwortete sie nur kurz „Gut!“. Sie wisse jedoch nichts über die Enwicklung von Kindern und worauf sie achten solle. Sie tue nur, was immer schon getan wurde. Soviel Reflektionsfähigkeit und Verständnis für die eigenen Situation hatte ich dann auch wiederum nicht erwartet. Shriya ist immer für eine positive Überraschung gut!

Verspäteter Besuch in Indien

Nach vier Tagen bekamen wir endlich unsere Visa-Bestätigungen. Damit konnten wir nun unsere „auf Eis gelegten“ Flüge erneut aktivieren und buchten genau für eine Woche später, am Samstag den 02.11., unsere Flüge nach Mumbai. Diwali war definitiv vorbei und wir würden leider keine der zahlreichen Traditionen zum Lichterfest persönlich erleben. Aber immerhin bestand die Chance, mehr Zeit mit allen verbringen zu können. Vermutlich war die Familie nun nicht mehr so stark in Rituale, Tempelbesuche und Familienzeremonien eingebunden und uns bliebe mehr Zeit füreinander.

Unser Empfang in Alegaon war überwältigend. Als unser Auto auf den Feldweg zur Farm einbog und damit für alle sichtbar wurde, brach Hektik auf dem Hof aus. Alle wurden zusammengerufen, die Kids rannten uns entgegen und auch wir waren bereits aus dem Auto ausgestiegen und liefen winkend auf alle zu. Ein extra für uns aufgehobener Diwali-Feuerwerkskörper wurde gezündet und wir mit einem lauten Knall und Jubel begrüßt. Die gesamte Farm war vor wenigen Wochen extra neu und farbig angestrichen worden, alles war sauber und aufgeräumt. Auf dem Hof vor unserer Hütte war in großer weißer Schrift „Welcome back Sonja and Thomas“ geschrieben und innen war alles mit frischen Blumenblüten geschmückt. Zwei Fotos von Thomas und mir in unserer einzigen traditionellen indischen Kleidung, aufgenommen im vergangenen Jahr zum Tempelfest, hingen an den Wänden und waren ebenfalls mit „welcome back“ beschriftet und mit Blüten dekoriert. Der Ventilator in unserem Schlafraum wurde angestellt und es regnete Blüten auf uns herab. Thomas und ich bekamen einen kleinen Handblumenstrauß überreicht und nun begann ein Drücken, Händeschütteln und Verneigen vor den Ältesten. Es war so ergreifend, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte. Dazu muss man bedenken, dass Blütenköpfe nur zu besonderen Anlässen und an heiligen Feiertagen als Blumenketten in den Häusern aufgehangen oder damit
die eigenen kleinen Haus- und Familientempel geschmückt werden. Wir wurden also mehr als nur willkommen geheißen.

Unsere Vermutungen bestätigten sich. Alle waren nach dem traditionsreichen mehrtätigen Diwali-Fest entspannter und weniger eingebunden in Formalitäten.
Die Kinder freuten sich riesig über das bunte Zelt und versteckten sich darin, Jungen und Mädchen gleichermaßen. Später saßen wir alle davor und es wurde abwechselnd gesungen. „Oh, es riecht gut, oh es riecht fein…“ fanden wir passend im Vergleich mit Diwali und erklärten dazu die Hintergründe unseres bevorstehenden Advents- und Weihnachtsfestes. Die Kinder schnappten sofort den Refrain auf, und in den Folgetagen hörten wir öfter ein leises „Oh, es riecht gut…!“

Ravis mittlere Schwester Manju war mit ihrer 4-jährigen Tochter Suriya
und der neugeborenen Sahi noch mit auf der Farm. Außerdem verbrachte die 9-jährige Tochter seiner älteren Schwester ihre Diwali-Ferien auch in Alegaon. Anderer Besuch war unterdessen abgereist und Baba wollte erst Mitte der Woche aus Pune nach Alegaon kommen. Bis dahin hatten wir also drei Tage Zeit, um für Shriya und die Kids schöne Erlebnisse zu gestalten und etwas Abwechslung zu schaffen. Gleich am Montagmittag fuhren wir mit Shriya, dem
Baby und allen 4 Kids nach Sangola. Dort wollten wir Erwachsenen „Mango-Mastani“ essen, ein spezielles Eis-Lassi-Getränk mit Cashewnüssen und Süßkram bestreut. Die Kids favorisierten Eis in jeder Geschmacksrichtung. Anschließend wünschte sich Shriya noch einen Besuch bei ihrer Familie in Kajegaon. Da unterdessen eine neue und befestigte Straße nach Pandharpur fertiggestellt war, dauerte die Fahrt zur elterlichen Farm mit dem Auto nur 20 Minuten. Auch hier waren alle entspannt und freuten sich riesig über unser Kommen.

Leider endete der Besuch für uns etwas traurig, da wir durch Yogita, einer Verwandten Shriyas, von der Verschuldung der Farm in Alegaon erfuhren und um Hilfe gebeten wurden. Ravi hatte sich als einziger männlicher Nachkomme seiner Familie um die Verheiratung seiner drei Schwestern, um die Gesundheitsfürsorge
seiner Eltern und um seine eigene Familie mit nunmehr drei Kindern zu kümmern. Das Einkommen aus der Farm reicht gut zur Selbstversorgung für die Familie, jedoch nicht für Sonderausgaben im Umfang von indischen Hochzeiten oder Krankenhausaufenthalten der Mutter sowie die nachgeburtliche Versorgung von Shriya in einem Krankenhaus. Daher hatte er bereits 2017 fünf verschiedene Kleinkredite bei weitläufiger Familie im Dorf oder anderen Bekannten aus dem Umfeld aufgenommen. Insgesamt muss er jedoch für die aufgenommenen Kredite 5% Zinsen pro Monat zahlen. Das ist doch WUCHER! Allerdings, so haben wir erfahren, sind solche Zahlungen durchaus üblich in dem ländlichen und privaten Umfeld. Wir waren geschockt!
Welche Hilfe konnten wir von außerhalb schon geben? Ohne Grundkenntnisse
zum aktuellen wirtschaftlichen Stand der Farm und ihrer Perspektiven wollten wir auf keinen Fall aktiv werden. Nur einfach „Geld rüberreichen“ und alle Zahlungen ausgleichen, kam für uns auch auf keinen Fall in Frage!
Ein „Farm-Controlling“ und ein Budgetplan 2020 mussten her! Würden Ravi und Shriya dem zustimmen, uns Einblick gewähren und vielleicht sogar notwenige unbequeme Veränderungen auf der Farm initiieren? Uns war klar, dass nun auch inhaltliche Diskussionen und strukturelle Veränderungen auf der Farm folgen müssten. Wir würden einen „Runden Familientisch“ initiieren, um alle Beteiligten einzubinden und uns nicht als die „Besserwissenden“ darzustellen. Doch erst einmal sollte die Familie und vordergründig Shriya in den nächsten zwei Tagen eine schöne Zeit haben. Das war unser Ziel Nummer 1.

Der 2. Kontinent in 3 Monaten

Bei unserer Abreise aus Indien im Rahmen unserer Sabbatzeit im Juli 2018 hatten wir versprochen, zu Diwali (jährliches Lichtfest in Indien, ähnlich unserem Weihnachtsfest) im Oktober 2019 wiederzukommen. Wir freuten uns auf dieses Wiedersehen ganz besonders, da es nach einem reichlichen Jahr an den heiligsten indischen Festtagen stattfinden und wir viele Traditionen miterleben würden. Als dann klar war, wir würden von Afrika aus starten müssen, planten wir alles unter Berücksichtigung dieser neuen Bedingung und buchten unseren Flug von Kigali nach Mumbai für den 26.10.18 um 1:30 Uhr. Nach Ankunft dort sollte es mit einem gemieteten Auto (inkl. Fahrer) in ca. 4 Stunden weiter nach Pune und am Folgetag dann nochmal in 4 Stunden nach Alegaon auf die Farm gehen.
Bereits Wochen vorher hatten wir Geschenke eingekauft: Süßigkeiten für die
Kinder, eine kleine Plüschgiraffe für den 3-Monate alten Sohn- Ohm- von Shriya, ein traditionelles Bambuskorb-Tablett für Mangal zum Auslesen von Linsen oder Getreide, bunte Vorratsstoffbeutel mit Netzgittereinsatz für Knoblauchzehen und Zwiebeln sowie ein ebenso buntes afrikanisches Kinderspielzelt, ein geschnitztes Kürbiskerzenlicht für Diwali sowie afrikanischen Kaffee und Schwarztee. Wir waren also bestens vorbereitet, hatten alles gut verpackt und die Koffer standen bereit.

Doch dann geschah das Unerwartete! Wir hatten am Flughafen bereits die erste Kofferkontrolle mit Drogenspürhund hinter uns und standen mit vier sperrigen Holzstangen vom Kinderspielzelt am Check In. Dort wurde uns dann mitgeteilt, dass wir den Flug nicht antreten könnten, da wir kein gültiges Visum hätten. Natürlich hatten wir kein Visum vorzuweisen, da wir „Visum on arrival“ nutzen würden. Also bei Einreise in Indien würde uns der normale Status eines Touristenvisums in den Reisepass eingestempelt werden. Alles gar kein Problem! Doch so einfach war es leider nicht. Wir hätten uns selbst für diese Form des Visums offiziell bei der indischen Botschaft anmelden und auf eine schriftliche Bestätigung warten müssen. Diese hätten wir nun beim Check In vorzeigen können, doch wir hatten sie nicht. Daher war unsere Reise abrupt beendet, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte. Panik kam auf! Das kann doch nicht sein! Thomas war doch schon einige Male in Indien und kennt sich bestens mit den Formalitäten aus. Wie konnte das nur passieren? Zu viel Arbeitsstress in den letzten Wochen? Berechtigte Fragen aber keine erklärende Antwort, die uns geholfen hätte.

Wir waren zeitig genug am Flughafen, denn das Verständnis von Pünktlichkeit ist uns immer noch gegeben und so hatten wir bis zur Abreise noch fast 2 Stunden Zeit. Verzweifelt versuchte Thomas nun, uns noch online für ein Visum anzumelden. Doch dieser Prozess ist wahnsinnig kompliziert. Man muss fast die kompletten biographischen Angaben der Eltern hinterlegen, den letzten Aufenthalt in Indien mit der dazu passenden Visum-Nummer angeben und ein aktuelles Passbild hochladen. Leider passt das Downloadvolumen eines gespeicherten Passbildes nicht zu dem erlaubten Uploade-Datenvolumen der Website zur Visa-Beantragung. Somit ist das Hochladen eines Fotos online eigentlich eine Unmöglichkeit. Thomas probierte bis zum letztendlichen Erfolg zahlreiche Varianten aus. Dieses Prozedere übersteigt meine Geduld und meine technischen Fähigkeiten um ein Vielfaches. Doch Thomas quälte sich durch alle Details, die dann aufgrund eines technischen Fehlers leider nicht einmal gespeichert werden konnten. Zurück auf „Start“ und alles erneut eingeben? Frustriert gaben wir auf und realisierten, wir würden tatsächlich NICHT zu Diwali nach Indien fliegen. Was für ein verdammter Mist. Ein Jahr hatten wir dazu Vorbereitungen getroffen, geplant, gemailt und Erwartungen geweckt. Nun platze alles von einer Sekunde auf die andere!

Unsere Freunde in Indien haben wir umgehend  noch am Flughafen informiert und auch  das gemietete Auto wieder abbestellt. Schließlich wussten wir ja nun noch nicht, wann und ob wir überhaupt in nächster Zeit fliegen können würden. Vorbei! Schweigende Rückfahrt mit dem Taxi vom Flughafen.
Am nächsten Tag wollten wir dann erneut die Online-Bewerbung für ein Touristenvisum starten.

514

Die Zahlenfolge 514 ist der Name einer Bar im Stadtbezirk Kimihurara, in der am Wochenende Livemusik gespielt, gesungen und getanzt wird. Schlicht und ergreifend ist 514 die Straßennummer, auf der sich die Location befindet. Freitags waren wir das eine oder andere Mal auch schon dort und haben uns zum Wochenausklang „after-work“ mit den Kolleg*innen von Thomas getroffen.
Allerdings kommt erst ab 21:30 Uhr richtig Stimmung auf, denn dann beginnt eine Band zu spielen. Mit ihr treten 2-3 Stammsänger*innen auf. Sie singen aktuellen britischen Pop, alt bekannte Reaggy-Songs aber auch Hip-Hop und traditionelle afrikanische Lieder. Erklingen letztere, singt und tanzt der ganze Saal. Selbst in den hintersten Ecken springen die Leute von ihren kuscheligen Couches auf, verschieben den Beistelltisch mit ihren Cocktails und suchen sich ein freies Plätzchen. Alle sind in Bewegung mit weit ausgebreiteten schwingenden Armen und tief versunken im Rhythmus. Es ist ergreifend zu beobachten, wie sich gefühlt eine ganze Nation erhebt und ihre Kultur vor den wenigen Muzungus im Saal präsentiert. Singen und Tanzen können hier alle aber es gibt Bewegungen, zu denen wir Europäer auf keinen Fall in der Lage sind. Es schaut toll aus, wie sich andere bewegen, ist mir aber manchmal auch ein wenig peinlich bei so „intimen Bewegungen“ dabei zu sein, einige Körper scheinen förmlich zu verschmelzen. Auch jeder Gast kann unangemeldet und unaufgefordert auf die Bühne, um sein musikalisches Talent zu zeigen. Nur eine kurze Abstimmung vor dem Auftritt mit der Band reicht aus, damit der gewählte Song auch instrumental begleitet werden kann. Da treten dann schon richtig coole Leute auf, deren Stimme einem die Gänsehaut heraufbeschwört. Ein kleinwüchsiger Mann tanzte sich die Seele aus dem Leib nach einer selbst zusammengestellten Choreographie, passend zur Livemusik der Band. Er wirbelt und hüpft, als ob es kein Morgen mehr gäbe. Damit sorgt er für standing ovations.

Durch den erweiterten Freundeskreis kennen wir Pakko, einen jungen Mann und Studenten aus Kigali. Er hat sich selbst das Geigespielen über YouTube beigebracht und es klingt sogar ganz passabel. Gemeinsam mit ihm hatte Lotti auf ihrer Klarinette ein Stück geprobt, was hier alle kennen und was auf der aktuellen Hitliste rauf und runter gespielt wird. Ganz selbstsicher hatte nun Pakko verkündet, er wolle mit Lotti im 514 auftreten.
An diesem Freitag waren auf Einladung von Thomas nun besonders viele unserer Bekannten und neuen Freunde im 514 und sie hatten teilweise auch noch ihre Freunde mitgebracht. So waren wir an diesem Abend mindestens 15-20 Personen. Alle warteten ganz gespannt darauf, ob Pakko im Duett mit Lotti auftreten würde. Ich bekam schon bei dem Gedanken daran ein flaues Gefühl im Magen denn der Saal war zu fortgeschrittener Zeit sehr voll. Wir hatten alle bereits einige Gläser Wein bzw. etliche Flaschen Mützig-Bier getrunken und waren daher auch feier- und tanzfreudiger als erwartet. Etliche Songs konnten wir sogar mitsingen, wobei uns das bei den afrikanischen Texten immer nur bei einzelnen Worten lautstark gelang. Außerdem gab es Anleitung zum Tanzen durch die anwesenden bewegungsaffinen Rwandaer. Ich habe die kleinen Schrittfolgen jedoch nicht mehr richtig aufnehmen und schon gar nicht behalten können. Macht nichts! Die Stimmung war prächtig und wir hatten viel Spaß!
Und dann kam der große Auftritt. Lotti wirkte ganz entspannt, hatte ihre Klarinette zusammengebaut, gestimmt und stand mit Pakko auf der Bühne. Sie wurde von ihm kurz vorgestellt. „Meine Begleiterin kommt aus Deutschland!“. Laute Jubelschreie aus unserer Ecke. Dann Stille! Ein ganz ruhiges und zartes Musikstück erklang. Die Töne saßen, das Licht brachte die richtige Stimmung dazu und das Zusammenspiel im Duett passte einfach wunderbar, trotz weniger Proben im Vorfeld. Alle waren begeistert! Was für ein tolles Erlebnis und welcher Mut von Lotti, sich das auch zu trauen. Thomas und ich waren mega stolz. Ein rundherum gelungener Abend. Vom Jubeln, Singen und Tanzen waren wir am nächsten Tag noch etwas angeschlagen aber das Erlebnis war einmalig und kann nicht getoppt werden.