Verspäteter Besuch in Indien

Nach vier Tagen bekamen wir endlich unsere Visa-Bestätigungen. Damit konnten wir nun unsere „auf Eis gelegten“ Flüge erneut aktivieren und buchten genau für eine Woche später, am Samstag den 02.11., unsere Flüge nach Mumbai. Diwali war definitiv vorbei und wir würden leider keine der zahlreichen Traditionen zum Lichterfest persönlich erleben. Aber immerhin bestand die Chance, mehr Zeit mit allen verbringen zu können. Vermutlich war die Familie nun nicht mehr so stark in Rituale, Tempelbesuche und Familienzeremonien eingebunden und uns bliebe mehr Zeit füreinander.

Unser Empfang in Alegaon war überwältigend. Als unser Auto auf den Feldweg zur Farm einbog und damit für alle sichtbar wurde, brach Hektik auf dem Hof aus. Alle wurden zusammengerufen, die Kids rannten uns entgegen und auch wir waren bereits aus dem Auto ausgestiegen und liefen winkend auf alle zu. Ein extra für uns aufgehobener Diwali-Feuerwerkskörper wurde gezündet und wir mit einem lauten Knall und Jubel begrüßt. Die gesamte Farm war vor wenigen Wochen extra neu und farbig angestrichen worden, alles war sauber und aufgeräumt. Auf dem Hof vor unserer Hütte war in großer weißer Schrift „Welcome back Sonja and Thomas“ geschrieben und innen war alles mit frischen Blumenblüten geschmückt. Zwei Fotos von Thomas und mir in unserer einzigen traditionellen indischen Kleidung, aufgenommen im vergangenen Jahr zum Tempelfest, hingen an den Wänden und waren ebenfalls mit „welcome back“ beschriftet und mit Blüten dekoriert. Der Ventilator in unserem Schlafraum wurde angestellt und es regnete Blüten auf uns herab. Thomas und ich bekamen einen kleinen Handblumenstrauß überreicht und nun begann ein Drücken, Händeschütteln und Verneigen vor den Ältesten. Es war so ergreifend, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte. Dazu muss man bedenken, dass Blütenköpfe nur zu besonderen Anlässen und an heiligen Feiertagen als Blumenketten in den Häusern aufgehangen oder damit
die eigenen kleinen Haus- und Familientempel geschmückt werden. Wir wurden also mehr als nur willkommen geheißen.

Unsere Vermutungen bestätigten sich. Alle waren nach dem traditionsreichen mehrtätigen Diwali-Fest entspannter und weniger eingebunden in Formalitäten.
Die Kinder freuten sich riesig über das bunte Zelt und versteckten sich darin, Jungen und Mädchen gleichermaßen. Später saßen wir alle davor und es wurde abwechselnd gesungen. „Oh, es riecht gut, oh es riecht fein…“ fanden wir passend im Vergleich mit Diwali und erklärten dazu die Hintergründe unseres bevorstehenden Advents- und Weihnachtsfestes. Die Kinder schnappten sofort den Refrain auf, und in den Folgetagen hörten wir öfter ein leises „Oh, es riecht gut…!“

Ravis mittlere Schwester Manju war mit ihrer 4-jährigen Tochter Suriya
und der neugeborenen Sahi noch mit auf der Farm. Außerdem verbrachte die 9-jährige Tochter seiner älteren Schwester ihre Diwali-Ferien auch in Alegaon. Anderer Besuch war unterdessen abgereist und Baba wollte erst Mitte der Woche aus Pune nach Alegaon kommen. Bis dahin hatten wir also drei Tage Zeit, um für Shriya und die Kids schöne Erlebnisse zu gestalten und etwas Abwechslung zu schaffen. Gleich am Montagmittag fuhren wir mit Shriya, dem
Baby und allen 4 Kids nach Sangola. Dort wollten wir Erwachsenen „Mango-Mastani“ essen, ein spezielles Eis-Lassi-Getränk mit Cashewnüssen und Süßkram bestreut. Die Kids favorisierten Eis in jeder Geschmacksrichtung. Anschließend wünschte sich Shriya noch einen Besuch bei ihrer Familie in Kajegaon. Da unterdessen eine neue und befestigte Straße nach Pandharpur fertiggestellt war, dauerte die Fahrt zur elterlichen Farm mit dem Auto nur 20 Minuten. Auch hier waren alle entspannt und freuten sich riesig über unser Kommen.

Leider endete der Besuch für uns etwas traurig, da wir durch Yogita, einer Verwandten Shriyas, von der Verschuldung der Farm in Alegaon erfuhren und um Hilfe gebeten wurden. Ravi hatte sich als einziger männlicher Nachkomme seiner Familie um die Verheiratung seiner drei Schwestern, um die Gesundheitsfürsorge
seiner Eltern und um seine eigene Familie mit nunmehr drei Kindern zu kümmern. Das Einkommen aus der Farm reicht gut zur Selbstversorgung für die Familie, jedoch nicht für Sonderausgaben im Umfang von indischen Hochzeiten oder Krankenhausaufenthalten der Mutter sowie die nachgeburtliche Versorgung von Shriya in einem Krankenhaus. Daher hatte er bereits 2017 fünf verschiedene Kleinkredite bei weitläufiger Familie im Dorf oder anderen Bekannten aus dem Umfeld aufgenommen. Insgesamt muss er jedoch für die aufgenommenen Kredite 5% Zinsen pro Monat zahlen. Das ist doch WUCHER! Allerdings, so haben wir erfahren, sind solche Zahlungen durchaus üblich in dem ländlichen und privaten Umfeld. Wir waren geschockt!
Welche Hilfe konnten wir von außerhalb schon geben? Ohne Grundkenntnisse
zum aktuellen wirtschaftlichen Stand der Farm und ihrer Perspektiven wollten wir auf keinen Fall aktiv werden. Nur einfach „Geld rüberreichen“ und alle Zahlungen ausgleichen, kam für uns auch auf keinen Fall in Frage!
Ein „Farm-Controlling“ und ein Budgetplan 2020 mussten her! Würden Ravi und Shriya dem zustimmen, uns Einblick gewähren und vielleicht sogar notwenige unbequeme Veränderungen auf der Farm initiieren? Uns war klar, dass nun auch inhaltliche Diskussionen und strukturelle Veränderungen auf der Farm folgen müssten. Wir würden einen „Runden Familientisch“ initiieren, um alle Beteiligten einzubinden und uns nicht als die „Besserwissenden“ darzustellen. Doch erst einmal sollte die Familie und vordergründig Shriya in den nächsten zwei Tagen eine schöne Zeit haben. Das war unser Ziel Nummer 1.

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