Imigongo

Nach einer arbeits- und studienreichen Woche freuten wir uns alle drei aufs Wochenende. Bevor die zweite Regenzeit (September-November) so richtig beginnt, wollten wir einen Ausflug in einen Nationalpark machen. Insgesamt hat Rwanda drei Parks und etliche kleinere Waldreservate, die eine Fläche von ca. 2.300 km² umfassen. Somit sind 9% der staatlichen Landschaftsflächen unter Naturschutz gestellt. Der Volcanoes Nationalpark, in dem auch die Berggorillas von Dian Fossey leben, liegt im Norden Rwandas, der Nyungwe Forest Nationalpark im Südwesten und der Akagera Nationalpark im Osten. Letzteren hatten wir für unseren Ausflug ausgewählt.

Der Akagera Nationalpark liegt an der Grenze zu Tansania und ist ca. 110 km von Kigali entfernt. Auf einer recht gut ausgebauten Landstraße erreicht man den Park auch sehr gut, lediglich die letzten 47 km geben einen kleinen Vorgeschmack auf das kommende Fahrerlebnis. Dunkelrote, staubige Buckelpiste! Bevor wir uns diesem Vergnügen widmen, halten wir am Akagera Art Center, um einen Kaffee zu trinken. Schließlich sind wir bereits 7:45 Uhr in Kigali aufgebrochen, um auch am Anreisetag noch ausreichend Zeit im Nationalpark zu haben.

Das Art Center unterstützt einheimische Künstler*innen, die sich der modernen Malerei widmen. Ich bin erstaunt, wie hochpreisig die Gemälde angeboten werden. 300 $ bis 1200 $ kann man bezahlen und erhält dann ein farbenfrohes Ölbild mit einem Materialmix aus bunten Stoffflicken. Hat man Glück, kann man dem Künstler sogar noch bei der Arbeit zuschauen. Außerdem werden im Akagera Art Center die traditionellen Imigongos verkauft. Sie sind eine rwandische Kunstart, die überwiegend von Frauen hergestellt wird. Auf Holzplatten oder auf Leinwänden unterschiedlicher Größe werden mit Kuhdung typisch-afrikanische, geometrische Figuren und traditionelle Muster geformt. Anschließend koloriert man sie in klassischem Schwarz-Weiß oder gestaltet sie etwas moderner und mehrfarbig. Diese traditionellen Motive findet man im Stadtbild auch auf Häuserwänden, auf Werbeplakaten, als Untersetzter, in Bambusschalen oder als Muster auf der Keramik.

Eine große Übersichtskarte vom Akagera Nationalpark hängt ebenfalls im Art Center aus. Wir fotografieren sie ab, da wir die Karte, die Thomas extra vorher besorgt hatte bei dem frühen Aufbruch vergessen haben. Mit der Fotokopie fühlen wir uns nun gut vorbereitet für die weitere Fahrt, da dir Karte auch detaillierte Wege und Picknickplätze ausweist. Thomas war bereits schon einmal im Nationalpark. Mit Kollegen ist er quer durch den Park auf dem durchgehende Hauptweg 120 km durchgefahren. Wir planen allerdings eine Zeltplatzübernachtung auf einer eingezäunten Anhöhe mit Feuerstelle und Ausblick über den Nationalpark. Dafür haben wir uns extra ein großes Zelt von einer Bekannten ausgeliehen. Alles andere an Campingequipment haben wir selbst dabei. Außerdem werden wir auch den einen oder anderen Seitenweg abfahren, um richtig in die Natur einzutauchen. Durch die unterschiedlichen Tageszeiten hoffen wir, doch einige Tiere zu sehen und sind sehr gespannt, welche Arten sich uns tatsächlich zeigen werden.

Im Schlepptau

Unser erster Tagesausflug zum Muhazi- See hatte uns durch die bunte Vogelwelt so gut gefallen, dass wir noch einmal mit Lotti dorthin fahren und ihr alles zeigen wollten. Um gemeinsam ein wenig zu laufen, wollten wir diemal an eine andere Stelle des Sees. Rucksack, Wasserflaschen, Sonnencreme und Regenjacken hatten wir eingepackt.
Die Autofahrt gestaltete sich allerdings etwas schwieriger, da die Wege weitaus weniger erschlossen waren und wir nicht wirklich auf einer Straße fuhren. Es ging ab in´s Gelände. Dank des Land Rovers war das auch kein Problem, aber ein Zeitfaktor. In der größten Mittagshitze hielten wir in einem Dorf an und parkten das Auto im Schatten unter einem Baum. Sofort kamen einige Kinder und schauten neugierig aus sicherer Entfernung, wie wir unsere Sachen aus dem Auto holten, den Rucksack aufsetzten, die Wasserflaschen zückten und los liefen. Ein paar der Kinder folgte uns.

Wir hatten auf einer Anhöhe gehalten, mit schönem Blick über Land und wollten hinunter zum Muhazi-See laufen. Also mussten wir erst einmal durch ein kleines Dorf, wieder vorbei an Bananenhainen und Zuckerrohrfeldern. Skeptische Blicke der Dorfbewohner folgten uns. Vereinzelt wurde uns aber auch am Wegesrand gewunken. Es sprach sich anscheinend schnell im Dorf herum, dass Muzungus unterwegs waren, denn aus jeder Hütte und hinter jedem Feldrand kam plötzlich ein weiteres Kind hervor und schloss sich uns an.
Aus bisheriger Erfahrung wußten wir, dass diese Wegbegleitung nur bis zur nächsten Weggabelung oder bis zum nächsten angrenzenden Siedlungsrand anhalten und sich dann auflösen würde. Doch diesmal war es anders! Es wurden mehr und mehr Kinder und hinter uns bildete sich ein Tross. Im Gleichschritt folgten sie uns, anfangs ruhig und mit etwas Abstand. Doch mit der Zeit waren wir komplett von ca. 25 lärmenden Kindern unterschiedlichen Alters umgeben, ja fast eingeschlossen. Blieben wir stehen, blieben sie auch stehen. Drehten wir uns um, stoben sie kreischend auseinander. Es war wie ein Spiel, nur dass es keine Seite wirklich verstand. Verwirrung und Unsicherheit somit auch auf beiden Seiten.
Wir versuchten uns so normal wie möglich unter diesen Umständen zu verhalten, plauderten miteinander und wollten die Kamera für Landschaftsaufnahmen aus der Tasche holten. Die Kinder krochen förmlich in die Fototasche, begierig zu erfahren, was da wohl drin ist. Als sie realisierten, dass es eine Kamera war, begann ein Kreischen und Murmeln. Einige Kinder zogen sich zurück. Offensichtlich hatten sie Angst, fotografiert zu werden oder wollten es einfach nicht. Demonstrativ fotografierten wir die Umgebung, einzelne Pflanzen, die Landschaft und versuchten den wunderschönen Blick auf den See einzufangen. Wir wollten signalisieren, dass wir kein Foto machten, wenn die Kindes er nicht wollten. Doch es war unmöglich, stehenzubleiben und in aller Ruhe eine Kameraeinstellung vorzunehmen. Augenblicklich wurde wir umringt von zahlreichen neugierigen Kindern, die an uns zupften und knufften, dabei lachten und tuschelten. Wir fühlten uns bedrängt und dadurch sehr unwohl. Wie Außerirdische auf einer unbekannten Mission. Einerseits wurden vereinzelte Rufe „Foto, Foto!“ lauter, denn offensichtlich wollten die älteren Jungs Handyfotos mit uns bzw. mit Lotti. Andererseits war es uns nicht „erlaubt“ und möglich, mit unserer Kamera spontan Fotos von der Landschaft und den Kindern zu machen. Sie standen ja schließlich überall herum und ohne sie war einfach kein Foto möglich.
Beim Laufen zeigten die Kids ständig auf unsere bunten Trinkflaschen oder wollten Geld (vermutlich auch als Gegenleistung für Fotos, wir wissen es nicht).
Ein Versuch, die für uns angespannte Situation zu entschärfen, indem wir mit einem zusammengewickelten Bananenblatt-Fußball zwei-drei Kicks mit den Kids machten, brachte keine Verbesserung. Sie wurden dadurch verständlicherweise noch zutraulicher und für uns aufdringlicher. Ein paar Schritte blieb ich dann hinter Thomas und Lotti zurück, so dass sich die Kinderschar teilte und jeder von uns nicht so stark umringt wurde. Es war jedoch nervig und anstrengend.
Die Lust auf´s Wandern war uns gründlich vergangen. Wir verkürzten unseren geplanten Ausflug, bogen vom Weg ab und quälten uns steil bergauf, um wieder schnell zum Dorf und zu unserem Ausgangspunkt zurückzukommen.

Die nächste Wanderung am Muhazi-See planen wir wieder auf der anderen Seite des Sees. Dort war uns die heutige Erfahrung erspart geblieben. Vielleicht haben wir beim nächsten Mal wieder mehr Glück und Ruhe.

Ahnungslos

Thomas hat eine taffe Kollegin, Solange. Sie ist clever, nimmt die vielen inhaltlichen und methodischen Anregungen von Thomas sehr gern an und möchte sich mit seiner Hilfe beruflich weiterentwickeln. Als sie nun hörte, Ehefrau und Tochter sind auch in Kigali angekommen, wollte sie uns gern kennenlernen. So bekamen wir als Familie eine Einladung von ihr und ihrem Mann zum Abendessen im „ZEN“, einem orientalisch-asiatischen Restaurant. 19:00 Uhr wollten wir uns dort treffen.
Am frühen Nachmittag fuhren wir erst einmal mit dem Auto in die City. Etliche Dinge mussten noch eingekauft werden und wir wollten Lotti unsere „Lieblingsläden“ zeigen. Ich fuhr, da Samstag wenig Verkehr in der Stadt zu erwarten war und parkte auf einem extra großen, kostenpflichtigen Parkplatz eines Einkaufzentrums. Hier hatte ich eine Chance, das Einparken mit dem alten Land Rover zu bewältigen und ohne die Fallstricke einer Tiefgarage rein- und rausfahren zu können.
Der Einkauf bei T 2000, dem chinesischen Billiggroßeinkaufsmarkt, dauerte länger als erwartet. Das liegt an den Abläufen, die man dort einhalten muss: Taschenkontrolle vor dem Betreten des Marktes, gefolgt vom Einschließen aller Taschen und Beutel in einem Safe am Eingang der Einkaufsetagen, Wartschlangen an den Kassen und überforderte Kassierer, die die Preise nicht einscannen können, da die Technik nicht funktioniert. Am Ende des gerade überstandenen Kassierens erfolgt dann noch die Überprüfung des Kassenzettels mit den im Korb liegenden Waren durch die Security und zwar Stück für Stück (ein Kleiderbügel, zwei Kleiderbügel,… es ist für uns jedesmal ein Meditationsauftrag). Erst danach kann man seine Taschen wieder abholen, alles einpacken und aufbrechen. Zu unserem Bedauern wird von den Angestellten alles ganz selbstverständlich mit der notwendigen Ruhe und Sorgfalt ausgeführt. Die kostbare Zeit rennt davon, wobei man nur ein paar Dinge eingekauft hat. Unsere Geduld war überstrapaziert und wir daher beim Verlasse des Einkaufsmarktes alle etwas genervt und angespannt. Die gekauften Sachen luden wir aus unserem vollen Einkaufswagen ins Auto und wollten gerade starten…doch das Auto sprang nicht an. Hatte ich was falsch gemacht? Batterie? Zündung?
Beschämte Blicke, nur das Benzin war alle! So musste Thomas zu Fuß 10 Minuten zur nächstgelegenen Tankstelle laufen und einen kleinen Plastikkanister füllen lassen. Lotti und ich tranken unterdessen einen frisch gepressten Saft in einem Café, welches gleich neben der Parkplatzausfahrt lag und warteten. Das lernt man hier in Rwanda, totsicher!
Anschließend fuhren wir zu „Kigali Hights“, einem sehr noblen und schicken Einkaufsparadies für Kigalis Großverdiener und Expat-Territorium. In unseren Wochenend-Wohlfühl-Sachen entsprachen wir nicht ganz dem Anblick der sich dort tummelnden Mehrheit. Trotzdem bereitete uns der Einkauf in einem Sportladen viel Freude, da wir u. a. für Lotti gute Funktionssachen bekamen.
Unterdessen war es bereits 18 Uhr und wir überlegten, gleich von hier aus in das Restaurant zu fahren, entschieden uns jedoch dagegen. Also fuhren wir noch einmal 20 Minuten zurück nach Hause, um uns umzuziehen und die „Abendgarderobe“ anzulegen. Schließlich war Wochenende und wir waren zum Essen verabredet. Zeitlich würde das alles mega knapp werden, doch afrikanische und deutsche Zeit passen ohnhin nicht zueinander. Mit leichter Verspätung kamen wir im „ZEN“ an. Solange und ihr Mann Jacob saßen bereits am Tisch. Ein tolles überdachtes Gartenrestaurant mit sehr schön eingedeckten Tischen, ein sehr schönes Ambiente (www.zenkigali.com).

Nach sehr herzlicher Begrüßung begann sofort ein lockeres offenes und lustiges Gespräch. Wir erfuhren, dass an diesem Tag Solange Geburtstag war. Wir hatten keine Ahnung gehabt und waren daher ohne Geschenk aber wenigstens noch in ordentlichem Outfit aufgetaucht. Erleichterung! Wir sangen „Happy Birthday“ und selbstverständlich auch noch „Weil heute dein Geburtstag ist.“ Damit unterhielten wir das gesamte Lokal und sorgten für Begeisterung bei allen Anwesenden, einschließlich dem Geburtstagskind. Sehr gut!
Es wurden Getränke bestellt und ein Blick in die Speisekarte geworfen. Man würde mit der Bestellung noch etwas warten wollen, wenn es uns auch Recht sei. So zeitig esse man in Ruanda nicht, erklärte uns Jacob. Obwohl wir richtig hungrig waren, schließlich hatten wir durch unseren Einkaufsmarathon keine Mittagspause gehabt, stimmten wir selbstverständlich zu. Eine weitere Stunde verging mit kurzen fachlichen Gesprächen der Männer und vielen lustigen Kindheits- und Familienanekdoten aus Tansania, wo Jacob und Solange aufgewachsen waren.

Plötzlich erklang „Happy Birthday“ in Kinyarwanda und der Kellner kam mit einer kerzenbestückten Torte an unseren Tisch. Ihm folgte jedoch eine weitere Person und dann noch eine und noch eine…es wurden immer mehr Personen und schließlich realisierte Solange, dass ihre gesamte Familie als Überraschungsgäste mit ihren beiden kleinen Kindern (3 und 5 Jahre) angereist war, um mit ihr zu feiern.

Das Erstaunen und die Freude waren auf allen Seiten groß und Jacob platze fast vor Freude und Stolz über seine gelungene Überraschung, die er gemeinsam mit einer Schwester von Solange organisiert hatte. Nun wurden Tische und Stühle gerückt, Getränke schnell geordert, eine Vorstellungsrunde durchlaufen, Umarmungen folgten, Tränen flossen und wir sahen uns plötzlich in einer großen traditionellen Familienfeier eingebunden. Reden wurden gehalten, Geschenke übergeben, gesungen, erzählt und dabei nun auch ausgiebig gegessen. Es war wunderbar! Alle zeigten sich uns gegenüber so offen und herzlich, als gehörten wir ganz
selbstverständlich mit zur Familie und das schon seit Jahren. Alle bemühten sich, ausschließlich englisch zu sprechen, damit auch wir teilhaben konnten. Die Schwiegereltern waren glücklich über unsere Anwesenheit und fühlten sich, wie wir übrigens auch, sehr geehrt. Thomas bekam in einer Ansprache durch das Geburtstagskind die wohl positivste Rückmeldung zu seinen beruflichen Fähigkeiten und persönlichen Eigenschaften, die man sich nur denken kann. Ich war so stolz auf meinen Mann. In dieser Runde als kleine Familie dabei zu sein, machte auch mich glücklich.

Inklusion in Ruanda

„Bridging the disability digital divide“! Was für ein Titel! Übersetzen kann ich den nicht genau aber ich weiß, was damit gemeint ist und das reicht für den Anfang. Es ist ein hoch gestecktes Ziel, die Behinderung und digitale Spaltung überwinden zu wollen, besonders für ein sich entwickelndes Land wie Ruanda. Das Ministerium für Jugend und die „Ruanda Information Society Authority“ (RISA, dort arbeitet Thomas) hatten sich überlegt, eine Konferenz zum Thema Inklusion zu organisieren.

Diese war als Auftaktveranstaltung für Technikfreaks und „Erfinder“ gedacht, die nachfolgend an einem „Hackaton“ teilnehmen würden. Im Ergebnis sollten junge technikaffine Ruandaer die gewonnenen Hintergrundinformationen zu Behinderung und Inklusion in technische Lösungen umsetzen. Eine wunderbare Idee! Ich war begeistert. Über Thomas trat ich mit der Organisatorin, Sylvie in Kontakt. Seit Mai hatte sie mit einem kleinen Team von RISA am Konzept, der Umsetzung sowie der Organisation gefeilt. Nun sollte am 12.09. die Auftaktveranstaltung stattfinden und ich war als Referentin angefragt worden. Genauere Hintergrundinformationen zum Ort der Veranstaltung, den Teilnehmenden, der Zeit und den Inhalten hatte ich nicht. Diese würden noch kommen, versicherte mir Thomas, nur mit etwas weniger Vorlaufzeit. Am 11.09. kam dann auf Nachfrage erst einmal die Information, dass alles auf den 13.09. verschoben worden sei, da man keine geeignete Lokalität für ca. 80 bis 100 Personen gefunden habe. Den geplanten Tagesablauf erhielt ich doch tatsächlich schon am 12.09. durch Weiterleitung einer WhatsApp um 22:49 Uhr. Daraus war dann ersichtlich, dass der Beginn der Verastaltung am nächsten Tag mit der Anmeldung der Teilnehmenden für 8:00 Uhr angesetzt war. 8:30 Uhr sollte die offizielle Begrüßung durch die CIO (Chief Information Officer) von RISA erfolgen. Anschließend standen drei Fachvorträge auf dem Plan:

8:40 bis 9:00 Uhr
„Die Entstehungsbemühungen um Inklusion in Ruanda und deren
Herausforderungen“ (Referent: Chef der Nationalen Organisation für Menschen mit Behinderungen = NCPD)

9:00 bis 9:25 Uhr
„Die Digitalisierungsbemühungen der Regierung in Ruanda: aktuelle Entwicklungen“ (Referent: Bereichsleiter Digitalisierung, RISA)

9:25 bis 9:50 Uhr
„Globale Trends und Hilfsmittel im Rahmen der staatlichen
Inklusionsbemühungen“ (Referent: Dekan der Universität Ruanda, Department Inklusion)

Nach einer Frühstückspause sollte ab 10:30 Uhr dann ein Workshop mit den Teilnehmer*innen starten. Inhaltlich wünschten sich die Veranstalter lebendige Kleingruppenarbeit, doch konkrete Vorstellungen gab es noch nicht. Klar war lediglich, dass es vor der Mittagspause um Herausforderungen bezogen auf Inklusion und danach um erste Lösungsansätze gehen sollte. Weiterhin stand in der WhatsApp Nachricht, man erhoffe sich einen inhaltlichen Input von mir zur Ausgestaltung des Workshops. Diesen Input wolle man gern am Vormittag der eigentlichen Veranstaltung, also am 13.09. direkt in die Planung einfließen lassen. Ich war entsetzt! Ein Veranstaltungskonzept in dieser Größenordnung und mit einer Vorlaufzeit von vier Monaten mit diesen konkreten organisatorischen Ergebnissen vorliegen zu haben, fand ich desaströs. Welchen Input sollte ich denn so spontan geben und wie sollte dann die praktische Umsetzung so kurzfristig organisiert werden? Ich hatte gar keine Lust auf so ein Chaos, war aber neugierig, wie alles laufen würde. Außerdem wollte ich die speziellen Informationen zu diesem internationalen und aktuellen Thema auf keinen Fall verpassen.
Also habe ich am Abend vor der Veranstaltung doch noch einmal intensiver nachgedacht, Erfahrungen herausgekramt, Möglichkeiten der praktischen Umsetzung geprüft und nach 1 Stunden hatte ich ein mögliches „Kurzkonzept“ für den Workshop als open-space mit vier Gruppen zu unterschiedlichen Themen und einem 15-minütigen Warmup skizziert. Wir bräuchten lediglich vier Moderator*innen und vier Flipcharts. Ob das so ankommen und auch passen würde? Ich war mega gespannt.

Am nächsten Morgen fuhren Lotti und ich gleich 7:30 Uhr mit Thomas im Auto in die Innenstadt, da der Veranstaltungsort in der Nähe seines Büros lag. Wir wurden sehr herzlich von Sylvie begrüßt und bekamen auch umgehend Dr. Said vorgestellt, der für den Workshop-Teil zuständig war. Wie wir uns das denn nun denken würden, wurden wir sofort gefragt. Totales Erstaunen unsererseits! Es gab gar keine Vorstellungen von den Organisatoren, nicht ansatzweise. Also unsere Ideen in die bestehende Planung integrieren, war die Übertreibung des Jahrhunderts. Man hatte sich zur Ausgestaltung des Workshops ausschließlich auf unseren Input verlassen und so wurden selbstverständlich meine Ideen dankbar angenommen.
Dr. Said würde noch zwei weitere Moderatoren und die vier Flipcharts organisieren. Moment mal, wieso eigentlich nur zwei weitere Moderatoren? Er wolle moderieren und ich solle auch eine Gruppe übernehmen, war seine Antwort. Na das wurde ja immer besser. Ich hatte es befürchtet! Gott sei Dank hatte ich Lotti an meiner Seite. Gemeinsam stellten wir die vier Themenblöcke zusammen, bereiteten die Fragen für das Warmup vor und schrieben diese auf einen Zettel und erklärten allen Beteiligten den Ansatz des Workshops.
Gegen 9:00 Uhr kam dann auch endlich Innocent, ein weiteres Mitglied des Organisationsteams. Er sollte eines der drei Einstiegsreferate halten und auch eine Gruppe moderieren, hatte von unserem korrigierten Tagesablauf noch gar nichts gehört und schien aber jede Zeit der Welt zu haben. Ich war am Durchdrehen, denn noch immer fehlten Flipcharts und ein weiterer Moderator.
Unteressen waren wir mit über einer Stunde im Zeitverzug, als endlich die CIO von RISA auftauchte und mit der offiziellen Begrüßung die
Veranstaltung eröffnete. Auch einzelne Teilnehmer kamen mit mehr als einer Stunde Verspätung erst an. Das sei immer so, versicherte uns eine neben Lotti sitzende junge Frau. Die Fachvorträge folgten, jedoch nicht in der geplanten Zeitspanne von jeweils 20-25 Minuten. Jeder der Referenten überzog die Redezeit, dankbar darüber, sein Thema endlich auch einmal umfassend an offensichtlich interessierte Teilnehmende herantragen zu können. Während des letzten Vortages stellten wir fest, dass dieser genau die Inhalte abbildete, die wir im Workshop gemeinsam mit den Teilnehmenden erarbeiten wollten. So ein verdammter Mist! Konzept hinüber und die Zeit lief uns davon. Dr. Said war jedoch weiterhin entspannt und wir entschieden nach kurzem Zögern, die geplanten Inhalte trotzdem in den vier Workshopgruppen erarbeiten zu lassen und damit zu vertiefen.
Es ging erstmal in eine 15-minütige Kaffeepause. Auf die Mittagspause würden wir allerdings verzichten müssen, da am Freitag gegen 14 Uhr alle auf den Feierabendmodus umschalten würden und wir ohnehin im Zeitverzug waren. Somit startete der open-space Workshop nicht erst nach dem Mittagessen, sondern bereits nach der Kaffeekurzpause.
Die Erarbeitung von Herausforderungen durch Inklusion in den Bereichen Gesellschaft, Bildung, Arbeit und Wohnen lief ganz wunderbar. Ich
moderierte, wie sollte es auch anders sein, den Bereich Wohnen. Alle der tatsächlich anwesenden 50 Teilnehmenden waren motiviert, offen und sehr kommunikativ. Sie berichteten Erstaunliches. Selbst in der Hauptstadt werden behinderte Menschen von und in ihren Familien noch versteckt, sie dürfen nicht in die Öffentlichkeit. Die Familie schämt sich ihrer und empfindet die Behinderung als Fluch und Strafe. Kenntnisse über unterschiedliche Behinderungen gibt es (fast) nicht und Menschen mit kognitiven Einschränkungen werden in allen Diskussionen noch gar nicht berücksichtig. Bildung ist somit für viele behinderte Menschen nicht selbstverständlich und eine (Früh)Förderung schon gar nicht. An Arbeitsmöglichkeiten und an ein selbständiges Leben ist in den nächsten Jahren kaum zu denken! Wie verbindet sich das jedoch nun alles mit dem hohen Anspruch des Themas der Konferenz? Man möchte, durch die Regierung unterstützt, bereits Digitalisieren und hat doch noch nicht einmal die Basis geschaffen. Auch gibt es kein Standardsystem zur Diagnostik oder zur Erfassung eines Hilfebedarfes. Von personenzentrierter Assistenz kann auch keine Rede sein. Ehrlich gesagt, hatte ich das auch alles irgendwie so erwartet und trotzdem war ich von dem Thema der Konferenz so beeindruckt bzw. auch kurzzeitig verunsichert. Vielleicht war ja die Entwicklung in Ruanda doch weiter als erwartet und ich hatte meine Vorurteile wieder zu früh ausgepackt?! Auf Nachfrage konnten mir allerdings auch die Verantwortlichen diese Diskrepanz nicht erklären.
Lotti notierte alle Informationen auf dem Flipchart und ich versuchte die Diskussion rund ums Wohnen in geordneten Bahnen und inhaltlich am Laufen zu halten. Abschließend priorisierten wir drei Herausforderungen im Bereich Wohnen aus allen genannten Inhalten. Und schon wurde ich zur Abschlusspräsentation gebeten.

Uff! Nun auch noch die richtigen englischen Worte finden, um eine Stunde inhaltlicher Arbeit zusammenzufassen und die tatsächlich schwierigen Themen sensibel benennen. Lief aber auch ganz gut und alle waren am Ende zufrieden. Es sei ein toller Workshop gewesen: aktivierend, informativ und mit dem gewünschten Ergebnis, ohne die üblichen langweiligen Powerpoint-Präsentationen, über denen immer alle Teilnehmenden einschliefen. Das war der dankbare Abschlußkommentar von Dr. Said und Sylvie. Was konnte man mehr erreichen?

Lotti ist da

Am 10.09. holten wir Lotti 23:50 Uhr vom Flughafen in Kigali ab. Auch sie reiste mit insgesamt 40 kg Gepäck an. Wir hatten im Vorfeld eine Einkaufsliste geschickt mit all den Dingen, die wir unbedingt noch haben wollten. Sogar Quark stand mit auf der Liste, denn Thomas wollte unbedingt mal wieder Kartoffeln, Quark und Leinöl essen! Letzteres hatte ich bereits im Mai während meiner einwöchigen Urlaubsreise nach Ruanda mitgebracht.
Monatelang auf Käse, Joghurt und Quark im bisher üblichen Konsumausmaß und in der Vielfalt zu verzichten, ist auch eine kleine (für uns schon eine große) Herausforderung!

Beim Auspacken war es dann wie Weihnachten und Ostern, nur an einem Tag. Der Tisch war voll von leckeren und mehr oder weniger nützlichen Dingen: Meine geliebten Partylight-Kerzen, 2 kg Schokolade zum Verschenken an Thomas Kolleg*innen und ein Becher Nutella nur für mich!

In den nächsten 6 Wochen sind wir nun eine kleine Familie, teilen nicht nur mal ein paar schöne Besuchsstunden miteinander, sondern verbringen den Alltag gemeinsam. Und das auch noch in einem anderen Land mit ganz besonderen Herausforderungen. Ich glaube, wir sind alle drei total gespannt, wie das wohl funktionieren wird: einerseits Gemeinschaft genießen, Zeit miteinander haben, Alltagsthemen verhandeln, Kompromisse schließen aber andererseits auch Rückzugsmöglichkeiten nutzen und Individualität leben. Alles miteinander in Einklang zu bringen, ist für uns drei sehr selbständige Persönlichkeiten nicht leicht. Wir freuen uns aber sehr auf unser „Familienexperiment“.