„Bridging the disability digital divide“! Was für ein Titel! Übersetzen kann ich den nicht genau aber ich weiß, was damit gemeint ist und das reicht für den Anfang. Es ist ein hoch gestecktes Ziel, die Behinderung und digitale Spaltung überwinden zu wollen, besonders für ein sich entwickelndes Land wie Ruanda. Das Ministerium für Jugend und die „Ruanda Information Society Authority“ (RISA, dort arbeitet Thomas) hatten sich überlegt, eine Konferenz zum Thema Inklusion zu organisieren.
Diese war als Auftaktveranstaltung für Technikfreaks und „Erfinder“ gedacht, die nachfolgend an einem „Hackaton“ teilnehmen würden. Im Ergebnis sollten junge technikaffine Ruandaer die gewonnenen Hintergrundinformationen zu Behinderung und Inklusion in technische Lösungen umsetzen. Eine wunderbare Idee! Ich war begeistert. Über Thomas trat ich mit der Organisatorin, Sylvie in Kontakt. Seit Mai hatte sie mit einem kleinen Team von RISA am Konzept, der Umsetzung sowie der Organisation gefeilt. Nun sollte am 12.09. die Auftaktveranstaltung stattfinden und ich war als Referentin angefragt worden. Genauere Hintergrundinformationen zum Ort der Veranstaltung, den Teilnehmenden, der Zeit und den Inhalten hatte ich nicht. Diese würden noch kommen, versicherte mir Thomas, nur mit etwas weniger Vorlaufzeit. Am 11.09. kam dann auf Nachfrage erst einmal die Information, dass alles auf den 13.09. verschoben worden sei, da man keine geeignete Lokalität für ca. 80 bis 100 Personen gefunden habe. Den geplanten Tagesablauf erhielt ich doch tatsächlich schon am 12.09. durch Weiterleitung einer WhatsApp um 22:49 Uhr. Daraus war dann ersichtlich, dass der Beginn der Verastaltung am nächsten Tag mit der Anmeldung der Teilnehmenden für 8:00 Uhr angesetzt war. 8:30 Uhr sollte die offizielle Begrüßung durch die CIO (Chief Information Officer) von RISA erfolgen. Anschließend standen drei Fachvorträge auf dem Plan:
8:40 bis 9:00 Uhr
„Die Entstehungsbemühungen um Inklusion in Ruanda und deren
Herausforderungen“ (Referent: Chef der Nationalen Organisation für Menschen mit Behinderungen = NCPD)
9:00 bis 9:25 Uhr
„Die Digitalisierungsbemühungen der Regierung in Ruanda: aktuelle Entwicklungen“ (Referent: Bereichsleiter Digitalisierung, RISA)
9:25 bis 9:50 Uhr
„Globale Trends und Hilfsmittel im Rahmen der staatlichen
Inklusionsbemühungen“ (Referent: Dekan der Universität Ruanda, Department Inklusion)
Nach einer Frühstückspause sollte ab 10:30 Uhr dann ein Workshop mit den Teilnehmer*innen starten. Inhaltlich wünschten sich die Veranstalter lebendige Kleingruppenarbeit, doch konkrete Vorstellungen gab es noch nicht. Klar war lediglich, dass es vor der Mittagspause um Herausforderungen bezogen auf Inklusion und danach um erste Lösungsansätze gehen sollte. Weiterhin stand in der WhatsApp Nachricht, man erhoffe sich einen inhaltlichen Input von mir zur Ausgestaltung des Workshops. Diesen Input wolle man gern am Vormittag der eigentlichen Veranstaltung, also am 13.09. direkt in die Planung einfließen lassen. Ich war entsetzt! Ein Veranstaltungskonzept in dieser Größenordnung und mit einer Vorlaufzeit von vier Monaten mit diesen konkreten organisatorischen Ergebnissen vorliegen zu haben, fand ich desaströs. Welchen Input sollte ich denn so spontan geben und wie sollte dann die praktische Umsetzung so kurzfristig organisiert werden? Ich hatte gar keine Lust auf so ein Chaos, war aber neugierig, wie alles laufen würde. Außerdem wollte ich die speziellen Informationen zu diesem internationalen und aktuellen Thema auf keinen Fall verpassen.
Also habe ich am Abend vor der Veranstaltung doch noch einmal intensiver nachgedacht, Erfahrungen herausgekramt, Möglichkeiten der praktischen Umsetzung geprüft und nach 1 Stunden hatte ich ein mögliches „Kurzkonzept“ für den Workshop als open-space mit vier Gruppen zu unterschiedlichen Themen und einem 15-minütigen Warmup skizziert. Wir bräuchten lediglich vier Moderator*innen und vier Flipcharts. Ob das so ankommen und auch passen würde? Ich war mega gespannt.
Am nächsten Morgen fuhren Lotti und ich gleich 7:30 Uhr mit Thomas im Auto in die Innenstadt, da der Veranstaltungsort in der Nähe seines Büros lag. Wir wurden sehr herzlich von Sylvie begrüßt und bekamen auch umgehend Dr. Said vorgestellt, der für den Workshop-Teil zuständig war. Wie wir uns das denn nun denken würden, wurden wir sofort gefragt. Totales Erstaunen unsererseits! Es gab gar keine Vorstellungen von den Organisatoren, nicht ansatzweise. Also unsere Ideen in die bestehende Planung integrieren, war die Übertreibung des Jahrhunderts. Man hatte sich zur Ausgestaltung des Workshops ausschließlich auf unseren Input verlassen und so wurden selbstverständlich meine Ideen dankbar angenommen.
Dr. Said würde noch zwei weitere Moderatoren und die vier Flipcharts organisieren. Moment mal, wieso eigentlich nur zwei weitere Moderatoren? Er wolle moderieren und ich solle auch eine Gruppe übernehmen, war seine Antwort. Na das wurde ja immer besser. Ich hatte es befürchtet! Gott sei Dank hatte ich Lotti an meiner Seite. Gemeinsam stellten wir die vier Themenblöcke zusammen, bereiteten die Fragen für das Warmup vor und schrieben diese auf einen Zettel und erklärten allen Beteiligten den Ansatz des Workshops.
Gegen 9:00 Uhr kam dann auch endlich Innocent, ein weiteres Mitglied des Organisationsteams. Er sollte eines der drei Einstiegsreferate halten und auch eine Gruppe moderieren, hatte von unserem korrigierten Tagesablauf noch gar nichts gehört und schien aber jede Zeit der Welt zu haben. Ich war am Durchdrehen, denn noch immer fehlten Flipcharts und ein weiterer Moderator.
Unteressen waren wir mit über einer Stunde im Zeitverzug, als endlich die CIO von RISA auftauchte und mit der offiziellen Begrüßung die
Veranstaltung eröffnete. Auch einzelne Teilnehmer kamen mit mehr als einer Stunde Verspätung erst an. Das sei immer so, versicherte uns eine neben Lotti sitzende junge Frau. Die Fachvorträge folgten, jedoch nicht in der geplanten Zeitspanne von jeweils 20-25 Minuten. Jeder der Referenten überzog die Redezeit, dankbar darüber, sein Thema endlich auch einmal umfassend an offensichtlich interessierte Teilnehmende herantragen zu können. Während des letzten Vortages stellten wir fest, dass dieser genau die Inhalte abbildete, die wir im Workshop gemeinsam mit den Teilnehmenden erarbeiten wollten. So ein verdammter Mist! Konzept hinüber und die Zeit lief uns davon. Dr. Said war jedoch weiterhin entspannt und wir entschieden nach kurzem Zögern, die geplanten Inhalte trotzdem in den vier Workshopgruppen erarbeiten zu lassen und damit zu vertiefen.
Es ging erstmal in eine 15-minütige Kaffeepause. Auf die Mittagspause würden wir allerdings verzichten müssen, da am Freitag gegen 14 Uhr alle auf den Feierabendmodus umschalten würden und wir ohnehin im Zeitverzug waren. Somit startete der open-space Workshop nicht erst nach dem Mittagessen, sondern bereits nach der Kaffeekurzpause.
Die Erarbeitung von Herausforderungen durch Inklusion in den Bereichen Gesellschaft, Bildung, Arbeit und Wohnen lief ganz wunderbar. Ich
moderierte, wie sollte es auch anders sein, den Bereich Wohnen. Alle der tatsächlich anwesenden 50 Teilnehmenden waren motiviert, offen und sehr kommunikativ. Sie berichteten Erstaunliches. Selbst in der Hauptstadt werden behinderte Menschen von und in ihren Familien noch versteckt, sie dürfen nicht in die Öffentlichkeit. Die Familie schämt sich ihrer und empfindet die Behinderung als Fluch und Strafe. Kenntnisse über unterschiedliche Behinderungen gibt es (fast) nicht und Menschen mit kognitiven Einschränkungen werden in allen Diskussionen noch gar nicht berücksichtig. Bildung ist somit für viele behinderte Menschen nicht selbstverständlich und eine (Früh)Förderung schon gar nicht. An Arbeitsmöglichkeiten und an ein selbständiges Leben ist in den nächsten Jahren kaum zu denken! Wie verbindet sich das jedoch nun alles mit dem hohen Anspruch des Themas der Konferenz? Man möchte, durch die Regierung unterstützt, bereits Digitalisieren und hat doch noch nicht einmal die Basis geschaffen. Auch gibt es kein Standardsystem zur Diagnostik oder zur Erfassung eines Hilfebedarfes. Von personenzentrierter Assistenz kann auch keine Rede sein. Ehrlich gesagt, hatte ich das auch alles irgendwie so erwartet und trotzdem war ich von dem Thema der Konferenz so beeindruckt bzw. auch kurzzeitig verunsichert. Vielleicht war ja die Entwicklung in Ruanda doch weiter als erwartet und ich hatte meine Vorurteile wieder zu früh ausgepackt?! Auf Nachfrage konnten mir allerdings auch die Verantwortlichen diese Diskrepanz nicht erklären.
Lotti notierte alle Informationen auf dem Flipchart und ich versuchte die Diskussion rund ums Wohnen in geordneten Bahnen und inhaltlich am Laufen zu halten. Abschließend priorisierten wir drei Herausforderungen im Bereich Wohnen aus allen genannten Inhalten. Und schon wurde ich zur Abschlusspräsentation gebeten.
Uff! Nun auch noch die richtigen englischen Worte finden, um eine Stunde inhaltlicher Arbeit zusammenzufassen und die tatsächlich schwierigen Themen sensibel benennen. Lief aber auch ganz gut und alle waren am Ende zufrieden. Es sei ein toller Workshop gewesen: aktivierend, informativ und mit dem gewünschten Ergebnis, ohne die üblichen langweiligen Powerpoint-Präsentationen, über denen immer alle Teilnehmenden einschliefen. Das war der dankbare Abschlußkommentar von Dr. Said und Sylvie. Was konnte man mehr erreichen?
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