Ich sehe was, was du (noch) nicht siehst

Wir fahren mit dem Auto ca. 1 Stunde über Land an den Muhazi-See, einen natürlichen Stausee. Dieser ist 60 km lang, stellenweise 5 km breit und bis zu 14 Meter tief.

Aus diesem See, das muss ich hier schon einmal vorwegnehmen, haben wir zum Mittag den wohl leckersten Fisch seit langem gegessen. Einen gegrillten Tilapia, gefüllt mit Kräutern und Gewürzen. Dazu gab es „irische Kartoffeln“ (im Ofen gebackene Kartoffelhälften). Einmalig! Das war das kulinarische Highlight für meinen Mann seit Monaten. Bisher hatte er nicht den Eindruck großer geschmacklicher Vielfalt an nationalen Speisen.

Bis uns der fangfrische Fisch jedoch serviert werden konnte, unternahmen wir eine kleine Wanderung entlang des Sees. Es eröffnete sich uns eine anfangs tropische Pflanzen- und Tierwelt. Große Bäume blühten zart blau oder strahlend rot. Zahlreiche bunte und laut zwitschernde Vögel saßen in den Bäumen.

Dank der neuen Kamera konnte Thomas sogar den einen oder anderen scheuen Liedermacher auf ein Foto bannen. Es war ein Entdecken und Staunen über die Schönheit der ungewöhnlichen Natur.

Wir entfernten uns vom See und kamen mehr und mehr in das Landesinnere. Kinder badeten in den Ausläufern des Sees oder kletterten mit einer enormen Leichtigkeit auf Palmen. Wäsche wurde am Ufer gewaschen und zum Trocknen auf dem Boden ausgebreitet. Auf staubtrockenem Farmland hackten junge Männer mit Gerätschaften in der Erde. Von Bewässerung keine Spur! Lediglich zwei neu gebaute Wasserabfüllstationen konnten wir sichten, die jedoch noch nicht betriebsbereit waren. Das Trinkwasser schleppten Kinder und junge Erwachsene von zentralen Wasserstellen in großen gelben Plastikkanistern meilenweit heran.

Aus nächster Nähe haben wir auch eine Ziegelbrennerei gesehen. Per Hand werden aus Lehm Ziegelrohlinge geformt, anschließend luftgetrocknet und später aufgestapelt. Löcher in den riesigen Ziegelstapeln ermöglichen das Entfachen von kleinen Feuerstellen, so dass die Ziegel noch „gebrannt“ werden. Dabei entsteht eine ganz unterschiedliche Qualität an Ziegeln, je nachdem, wie viel Hitze jeder einzelne Stein abbekommt. Diese Methode wird „Feldbrand“ genannt.

Da dieses wunderschöne Ausflugsziel nicht allzu weit von Kigali entfernt ist, werden wir wohl noch das eine oder andere Mal hier sein und immer wieder etwas Neues sehen, was wir bisher noch nicht gesehen haben.

Herrschaftliches Personal

Wie schon gesagt, unser neues Haus ist riesig und absolut unangemessen für nur zwei Personen. Von einem 20 qm Schlafzimmer geht ein separates großes Wannen- und Duschbad mit Toilette ab. An das ca. 45 qm große Wohn- und Esszimmer grenzt gleich die Küche und von dieser geht noch eine Vorrats- oder Abstellkammer ab. Außerdem haben wir drei Gästezimmer mit teilweise separaten Toiletten. In jedem Raum sind deckenhohe Einbauschränke eingepasst. Genug Stauraum!

Hinter unserem Haus befindet sich noch ein kleiner Backsteinanbau mit zwei Räumen (Schlafraum und Toilette). Dort halten sich abwechselnd die drei Männer der Security auf. Der gesamte Bereich hinter dem Haus ist ohnehin zur Nutzung durch hauseigenes Personal angelegt. Es gibt einen kleinen Wasch- und Wäscheplatz, zwei große Wassertanks, separate steinerne Sitzmöglichkeiten in Form einer kleinen Mauer entlang der Grundstücksgrenze und einen kleinen Gemüsegarten. Diesen hat Florent, unser Gärtner und auch einer der Security Männer, vorbildlich angelegt. Wir können jetzt schon grünen Salat (komplett schneckenfrei) und frische Kräuter ernten. Später soll dann Kohl wachsen. Sogar unser Lieblingsgewürz, Koriander, wird hoffentlich bald erste grüne Spitzen zeigen.

Wir haben eine Haushaltshilfe, Betti, die zweimal wöchentlich für 6-8 Stunden vorbeikommt und einen eigenen Schlüssel für den Hintereingang hat. Sie ist Studentin und unterstützt mit ihrem Einkommen die Familie bzw. sorgt für ihre Studiengebühren. Betti bügelt, wäscht Wäsche, wischt das gesamte Haus, spült das Geschirr ab, reinigt die Bäder und schrubbt sogar unsere verstaubten Schuhe. Ich bin von ihren Reinigungskünsten zwar nicht sonderlich überzeugt, trotzdem freue ich mich wahnsinnig, dass sie da ist. Ich würde mit dem feinen rostroten Straßenstaub, der sich in Sekundenschnelle überall ausbreitet, verzweifeln. So bin ich mir sicher, sie verteilt wenigstens zweimal die Woche diese Staubschichten auf ganz wunderbare Art und Weise.

Es ist schon ein sehr ungewöhnliches Gefühl „eigenes Personal“ zu haben, was sich auch noch wie Untergebene verhält. Eine gemeinsame Teepause mit einem kleinen Plausch, unvorstellbar! Thomas verteilt manchmal Kaffee oder Cola an die Security und bekommt ein strahlendes Lachen mit gesenktem Blick. Gegrüßt wird mit militärischen Ehren und Hand an der Kappe. Man bekommt unaufgefordert Hilfe beim Be- und Entladen des Autos und sogar Termine (Handwerker, Vermieter) werden stellvertretend gemanagt, sofern wir nicht zu Hause sind. Kann man die ursprünglich dunkelgraue Farbe unseres Landrovers nicht mehr erkennen, wird sogar noch selbständig zwischendurch das Auto geputzt. Hochherrschaftlich eben! Daran muss (und werde) ich mich erst noch gewöhnen.

Bis die zahlreichen Gäste aus Deutschland anreisen, auf die wir uns übrigens schon sehr freuen, habe ich mir in einem der drei Gästezimmer meinen „Sportraum“ eingerichtet. Eine Isomatte, etliche Terrabänder, ein Springseil und eine Faszienrolle gehören zur modernen Ausstattung. Dank YouTube habe ich einige Yoga-Videos kostenlos heruntergeladen und schon können die morgendlichen Dehnungs- und Bewegungsübungen beginnen. Erste erfolgreiche Probe fand heute statt. Ich bin begeistert!

Trotzdem plane ich eine Mitgliedschaft in einem benachbarten Fitness-Studio. Aber alles Schritt für Schritt!

Schöner Wohnen

Im April hatte Thomas bereits ein wunderschönes Haus für uns angemietet. Es befindet sich etwa 15-20 Autominuten außerhalb von Kigali City, so dass das Umfeld schon wieder relativ ländlich ist. Europäer oder Expatriates  (Europäer, die im Ausland leben und arbeiten) wohnen hier eigentlich nicht. Die Stadt liegt ca 1600 Meter hoch und man braucht ordentlich PS, um die teilweise steilen Anstiege der holperigen Straßen motorisiert gut zu bewältigen.

Zum Einzug in das Haus hatte Thomas von der einheimischen Firma „Woodpecker“ einfache Holzmöbel aus Lagerpaletten herstellen lassen. Für Einheimische ist das preislich unvorstellbar, für uns jedoch ist es das IKEA Ruandas. Schlicht und einfach, ohne Schnörkel dazu Klasse und gute Qualität: Vollholz und Naturlacke.

Die erste Lieferung bestand aus einem Couchtisch mit einem Dreisitzer und zwei „Sesseln“ sowie einem Bett und zwei Nachttischen. Außerdem bestellte Thomas einen Esstisch mit sechs passenden Stühlen. Letztere sind von den Maßen allerdings etwas hoch geraten und müssen nochmal angepasst werden. Auf dem Stuhl kann ich nur beinebaumelnd sitzen. Die Arme auf den 95 cm hohen Esstisch abzulegen, ist mir nur mit angehobenen Schultern möglich. Also selbst wir großen und kräftigen Germanen passen nicht wirklich dran und drauf. Wo war nochmal die nächste Physiotherapeutische Praxis? Alles erinnert ein wenig an „die Ritter der Tafelrunde“…mächtig rustikal! Aber wir lieben es!

Der Couchtisch und die dazu gehörenden Sitzmöbel haben Rollen, so dass wir sie auch auf die Terrasse schieben und dadurch vielfältig nutzen können. Wenn das nicht nachhaltig ist! Vorbildlich, mein Ehemann!

Da unser Haus richtig groß ist, wirkt es derzeit mit den wenigen Möbeln noch uneingerichtet, fast leer und wenig gemütlich. Da komme nun ich ins Spiel! Deko ist mein zweiter Vorname. Ich liebe es zu dekorieren, zu gestalten und Ordnung zu schaffen. Am zweiten Tag nach meiner Ankunft ging es dann auch gleich auf zum Shoppen.

Auch in diesem Punkt wollten wir keine große Einkaufskette (für Ausländer gibt es Hochglanzshopppingcenter), sondern das einheimische Kunsthandwerk unterstützen und für uns ein wenig mehr Afrika-Flair schaffen. Es gibt in der Innenstadt unzählige kleine Läden mit dekorativen Dingen, die wir gar nicht kennen und aus Materialien, die wir eigentlich nicht benannt haben wollten (Kuhdung!!). Entschieden habe ich mich für zwei kleine, sehr typische und praktische afrikanische Stühle aus Holz. Sie haben genau die richtige Passform für die voluminösen Hinterteile einheimischer Frauen. Auch ich sitzt darin ganz wunderbar. Dazu habe ich noch zwei Bastschalen gewählt, die ebenfalls phantastisch auf die Stuhlform passen. So haben wir nun im Wohnzimmer eine, wie ich finde, einerseits dekorative und andererseits praktische Sitzmöbelkombination stehen.

Weiter Dekorationsideen werden sicherlich bald folgen.

Ankunft in einer anderen Welt

Thomas hatte für mich extra einen Flug nach Ruanda über die Türkei gebucht, da ich so 40 kg Gepäck statt nur 23 kg mitnehmen konnte. Und wie sich herausstellte, war diese Option genau richtig. 40 kg waren in Berlin schnell in zwei großen Hartschalenkoffern verpackt, die ich extra von meinen Eltern mitgenommen hatte. Bisher waren wir ja immer nur mit überschaubarem Rucksackgepäck unterwegs, man musste es schließlich die gesamte Urlaubszeit über tragen können. Nun stand allerdings eine „kleine Auswanderung“ bevor.

Am 15.08.2019 landete ich 23:38 Uhr in Kigali, der Hauptstadt von Ruanda.

Nur 15 Autofahrtminuten vom Flughafen entfernt, liegt unser neues zu Hause. Eine Adresse gibt es nicht. Lediglich Bezirk und Ortsteil werden benannt. Wir wohnen in Kicukiru, Kagarama, Muyange, in der Nähe der Muyange Primary School und die Straße ist mit KK 468 beziffert. Diese liegt jedoch etliche Gehminuten von unserem Haus entfernt. In Deutschland würde unsere Adresse vergleichsweise wie folgt lauten: Treptow-Köpenick, Köpenick, Friedrichshagen, in der Nähe des alten Rathauses. Die Straße könnte die Friedrichshagener Str. sein. Post an so eine unkonkrete Adresse zu versenden, ist daher verständlicherweise nicht möglich.

Unser Anwesen ist richtig luxuriös, eine herrschaftliche Villa. Die Anfahrtswege jedoch sind katastrophal. Durch Straßenbauarbeiten bestehen überall tiefe Gräben, liegen aufgeschüttete verkrustete Erdberge, stapeln sich Feld- und Pflastersteine und es ist unbeschreiblich viel feiner trockener, rostroter Staub in der Luft. Er kriecht in jede Ritze, setzt sich sogar im Haus auf den Fussböden und einfach überall ab. Selbst geschlossene Schränke bleiben nicht verschont. Die Fusssohlen verfärben sich rötlich, sobald man barfuss durchs Haus läuft. Unglaublich! Wischen im Akkord ist angesagt. Wollte ich nicht abschalten und ausspannen?

Das mache ich auch! Erst einmal die Terrasse mit filmreifem Ausblick geniessen!

Rückkehr und Neuanfang

Thomas und ich hatten von März bis August 2018 eine sehr intensive und auch arbeitsreiche Sabbatzeit in Indien verbracht. Land und Leute waren uns dabei sehr ans Herz gewachsen. Nur schwer und tränenreich hatten wir von unserer Gastfamilie in Alegaon und Pune (Maharashtra) Abschied genommen.

Trotzdem! Ich freute mich auf Berlin, auf unser zu Hause, auf unsere Freunde, die Familie und natürlich auch auf den Job. Das halbe Jahr in Indien war einerseits lang und sehr ereignisreich, andererseits reichte es jedoch nicht aus, um schlechte Gewohnheiten abzulegen und Neues im Alltag einzubinden. So waren wir mit all unseren guten Vorsätzen und einem großen Veränderungswillen doch relativ schnell wieder in „good old Germany“ angekommen.

Kurz nach unserer Rückkehr bahnte sich bereits im Oktober 2018 ein Jobwechsel bei mir an. Thomas suchte intensiv nach einer passenden Stelle als Projektleiter (am liebsten mit internationaler Einbindung!).

Am 01.12.18 wechselte ich dann bei meinem langjährigen Arbeitgeber, der Stephanus gGmbH, von meiner Stelle als Leiterin eines ambulante Betreuungsbereiches für Menschen mit kognitiven Einschränkungen in die Hauptgeschäftsstelle des Geschäftsbereiches Wohnen & Assistenz. Dort nahm ich als Referentin für Projekte und Projektmanagement eine sehr interessante und herausfordernde Stelle an. Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetztes (BTHG) für den Geschäftsbereich und die verbundenen Service- sowie Vorstandsbereiche stand auf dem Plan. Das multiprofessionelle Projektteam bestand aus ca. 12 Leuten der Bereiche Facilitymanagement, IT/Software und Dokumentation, Compliancemanagement, Bereichs- und Unternehmenscontrolling, Qualitätsmanagement, Pädagogik, Strategisches Projektmanagement sowie Unternehmenskommunikation.

Dass ich mich innerhalb eines Jahres erneut mit dem Gedanken, für längere Zeit in eine „andere Welt“ zu reisen, tragen würde, war für mich unvorstellbar. Und doch kam es genau so.

Thomas erhielt im Dezember 2018 ein Angebot für eine Stelle als Projektmanager bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Ruanda. Ruanda? Wo ist das denn? War da nicht…? Unvorstellbar! 1994 Massengenozid! Hutu! Tutsi! Ich kannte nur Schlagworte und war beunruhigt und verunsichert.

Wir hatten nach zahlreichen Gesprächen und intensiven Diskussionen beschlossen, jeder von uns nimmt seine neue berufliche Tätigkeit auf, bringt das eigene Projekt voran und wir reisen viel „zwischen den Welten“ hin und her. Selbstverständlich wollten wir täglich miteinander telefonieren. Später würde ich dann für eine begrenzte Zeit nachkommen. Thomas begann seine Arbeit im Februar 2019. Ein anspruchsvolles Projekt! Er soll den Aufbau von Strukturen bei RISA (Rwanda Information Society Authority), einer Organisation, die dem Ministerium für ICT (Innovation, Communication, Technology) angeschlossen ist, initiieren. Digitalisierung spielt dabei eine ganz besondere Rolle.

Unsere Überlegungen, an getrennten Orten zu leben und zu arbeiten, erwies sich als nicht tragfähig. Im Alltag ohne den geliebten Menschen auszukommen, war für uns beide sehr schwer und so fällten wir erneut eine weitreichende Entscheidung. Ich würde nach Ruanda kommen und im Job eine unbezahlte Freistellung beantragen. Diesmal nicht nur für 6 Monate, sondern bis zum Projektende am 31.12.2020. Anderthalb Jahre!

Es begann für mich eine Zeit intensiver Vorbereitungen:

  • Haus zur Vermietung vorbereiten, d. h.
  • Ausräumen, aussortieren und Sachen verstauen
  • Hausschlüssel nachmachen, da unterschiedliche Parteien das Haus nutzen würden (Eltern, Freunde, Airbnb)
  • Auslandskrankenversicherung abschließen
  • Rentenversicherung klären
  • Visum beantragen
  • Möglichkeiten für die Nutzung unseres Autos bedenken
  • Impfungen erneuern und anpassen
  • Wichtige Berufs- und Studienabschlüssen notariell beglaubigen lassen
  • Erste Besuchsreise nach Ruanda für 1 Woche im Mai planen
  • Überlegungen, was ich in den 1,5 Jahren in Ruanda machen könnte und dazu Kontakte knüpfen, Institutionen anschreiben etc.
  • Planung der Abschiede, Treffen mit Freunden, Familie und Kolleg*innen

All diese Dinge waren für mich sehr emotional und haben mich zeitweise an meine Grenzen gebracht. Erneut habe ich jedoch erfahren dürfen, wie unterstützend und motivierend mein soziales Umfeld, beginnend mit der Familie und den Freunden aber auch mit den neuen Kolleg*inn ist. Ich bin überaus dankbar für so viele liebe Menschen um mich herum.

Dann bin ich also mal weg. 1,5 Jahre in Ruanda!

Meine Eltern verabschieden mich persönlich am Flughafen Tegel. Meike ruft kurz vorm Check in noch einmal an und wir „drücken“ uns durchs Telefon. Auch Lotti, Daggi, Gisela, Alex und viele Feund*innen melden sich kurz vorm Start. Der Abflug fällt mir immer schwerer und mein Blick verklärt sich durch Tränen.