Am Abend vor unserer Abschiedsparty wurden wir noch spontan von drei Lehrern gleichzeitig zu sich nach Hause eingeladen. Warum sie bis auf den letzten Tag gewartet haben, ist uns ein Rätsel. Schliesslich waren wir schon von drei anderen Lehrern eingeladen worden und hatten davon auch in der Schule berichtet.
Sandeep, Siddeshwar und Dheeraj wohnen in Sangola. Sie bilden in den Sommermonaten oft eine Fahrgemeinschaft mit dem Motorrad zur Schule. In der Regenzeit müssen sie jedoch mit dem öffentlichen Bus fahren. Dafür vergeht dann viel Zeit, da die Busse nicht im Zehnminutentakt fahren.
Wir fuhren also am Tag der Einladung gleich nach dem Unterricht gegen 16:30 Uhr mit dem Moped nach Sangola. Unseren Besuch hatten die drei zeitlich untereinander abgestimmt und „unsere Übergabe“ von einer Familie zur nächsten miteinander organisiert.
Erstaunlich für uns war, wie unterschiedlich die Lebensräume und -verhältnisse der drei Lehrer sind, obwohl sie alle mit ihren Familien in der Stadt und nicht weit voneinander entfernt leben.
Sandeep lebt gemeinsam mit seinen Eltern in einem kleinen freistehenden Häuschen, bestehend aus zwei Räumen. Die Toilette bzw. das Bad ist ausserhalb in einer kleinen Hütte. Beides ist Eigentum der Familie. Seine ganz persönlichen Dinge kann er in einem Schubfach unterbringen, mehr besitzt er nicht. Aber seinen Besitz, ein paar Bücher, hat er uns stolz gezeigt. Die Eltern schlafen in der Küche und er im Wohnzimmer. Insgesamt hat die Familie 20 qm Wohnfläche im Haus.
Siddeshwar wohnt nur zwei Querstrassen weiter in einem neu gebauten Mehrfamilienhaus. Über ein Treppenhaus ging es in die zweite Etage. Gemeinsam mit seinen Eltern, seiner Frau und seiner Schwester bewohnt er eine kleine Wohnung bestehend aus zwei Räumen, einer Küche und einem Bad sowie einem Balkon mit tollem Blick über die angrenzenden Felder am Stadtrand. Die Wohnung ist gemietet und sie war wesentlich moderner eingerichtet. Sitzmöbel, besonders Sofa und Sessel waren mit Decken überhangen und einzelne Tisch- oder Stuhlbeine sind oft noch mit Teilen der Plastikfolien von der Anlieferung versehen. Das haben wir mehrfach auch bei anderen Besuchen beobachtet. Dagegen haben wir richtige Gemütlichkeit in keiner der Wohnungen wahrgenommen. Für Bilder, Kissen, Kerzen, Blumenvasen sowie Pflanzen allgemein oder auch unsere allseits beliebten „ Steh-rum-chens“ ist einfach kein Platz. Das sind Luxusgegenstände, die man nicht gebrauchen und täglich verwenden kann.
Unterdessen hatten wir in jeder Familie eine Tasse Kaffee und eine herzhafte Kleinigkeit zu Essen sowie Kuchen oder süssen Nachtisch bekommen. Davon kann man natürlich nichts ausschlagen, da alle Augen auf einen gerichtet sind und jeder genau beobachtet, was für ein Gesicht man macht, wenn man das Angebotene probiert. Somit waren wir mehr als satt, hatten jedoch noch einen Familienbesuch offen. Es war bereits dunkel und wir mussten ja auch noch nach Alegaon zurück.
Am Busbahnhof im Stadtzentrum von Sangola wurden wir an Dheeraj übergeben, der dort bereits 30 Minuten auf unsere Ankunft gewartet hatte. Gemeinsam fuhren wir zu seiner Familie. Erstmalig erlebten wir nun das Konzept einer „joined family“ mit ca. 15-20 Familienmitgliedern. Sie alle leben unter einem Dach, d.h. in einem grossen mehretagigen Haus, wo alles offen ist und alles von jedem genutzt werden kann. Das Haus wurde bereits vom Urgrossvater gebaut und schrittweise erweitert. An den Wänden hingen zwei riesige Fotoplakate vom 1. Geburtstag eines Kindes und wirkten wie Kinowerbung im Eingangsbereich eines UCI. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen den Etagen. Die Kinder werden von allen erzogen und gekocht wird selbstverständlich auch übergreifend. Die älteren Herrschaften haben Gesellschaft, sofern sie es mögen oder sie ziehen sich zurück. Es ist ja Platz! So übernimmt jeder mal die Verantwortung für die Kinder oder die Versorgung der Senioren. Eigentlich eine wunderbare Idee, doch für uns praktisch nicht vorstellbar. Privatsphäre gibt es nicht, eigene Wünsche und Bedürfnisse stehen immer hinter denen der Gemeinschaft zurück und man gibt seine Individualität praktisch an der Haustür ab. Daher scheint das Modell zu funktionieren. Für den Moment wirkte auf uns alles sehr harmonisch und gegenseitig bereichernd, trotzdem habe ich so meine „europäischen Zweifel“ an dem Modell.
Von Dheeraj´s Familie bekamen wir nicht nur Tee, Salzgebäck und Süssigkeiten angeboten. Zum Abschied wurde uns sogar eine goldene Ghanesh-Figur geschenkt. Somit begleiten uns nun Glück, Zufriedenheit und Optimismus auf unserer Reise. Davon kann man auch nie genug bekommen!
Danke für die offenen Einblicke in die Familien und die vielen Anregungen und Diskussionen zu Kultur und Lebensweisen.