Aktionsradius

Mein Schnupfen und Husten sind endlich weg. Ich merke, wie ich nun auch die enorme Hitze, unterdessen sind es schon 39 °C, besser verkrafte. Selbstverständlich muss man sich anpassen, alles langsamer und viel weniger Dinge machen, regelmäßig Pausen einlegen, viel trinken und von 14-16 Uhr einfach gar nichts machen oder am besten irgendwo drinnen mit heftig rotierendem Ventilator versuchen, diese Mittagszeit zu überstehen. Ab 19:00 Uhr wird es dann innerhalb kurzer Zeit richtig dunkel. Ohne starke Taschenlampe sind Aktivitäten draußen danach nicht mehr möglich. Somit ist das Zeitfenster für Unternehmungen auf dem Land relativ gering.

Die Helligkeit und auch die Wärme (bis zu einer gewissen Grenze) sorgen bei mir generell für gute Stimmung, ich fühle mich hier sehr wohl! Wir werden versorgt und brauchen uns um nichts zu kümmern. Selbst einen kleinen gekühlten 20 Liter Kanister mit sauberem Trinkwasser bekommen wir alle zwei Tage in unser Zimmer gestellt. Alle sind so großartig, dass mir die Anpassung an das mehr als einfache Landleben hier doch erstaunlich gut gelungen ist. Das hat jedoch 1 Woche gedauert und ich komme immer noch täglich an meine Grenzen, kann damit aber besser umgehen!
Am Abend unserer Ankunft wollte ich allerdings gleich wieder abreisen, ging natürlich nicht, da wir wussten, was für unsere Ankunft alles um- und ausgebaut worden war. Somit habe ich mich „meinem Schicksal ergeben“ und wollten dem Ganzen eine Chance geben. Besonders schwer ist für mich der Umgang mit dem so wahnsinnig anderen Verständnis von Sauberkeit und Ordnung. Das war ja zu erwarten! Diese Begriffe bekommen eine ganz neue Bedeutung!
In allen Zimmern des Farmhauses gibt es nur zwei Möbelstücke, hochbeinige Metallbetten und Metallschränke. Keine Stühle, denn gesessen wird auf dem Boden. Kein Tisch, denn das Essen kommt auf den runden Tabletts, die auch wieder auf dem Boden abgestellt werden. Man erkennt eigentlich nicht, in welchem Raum man sich gerade befindet. Ist es das Schlafzimmer der Eltern, das Gäste- oder das Kinderzimmer? Nur die Küche ist als solche erkennbar und verfügt über Regale, zum Verstauen von Dingen. Somit ist Ordnung halten einfach anders und die Dinge bzw. Sachen liegen, aus meiner Perspektive, einfach irgendwo draußen herum oder sind in die Schränke gestopft. Die Einheimischen wissen jedoch ganz genau, wo sie was haben „liegen lassen“ und von dem Platz aus nutzen Sie es erneut.
Was mir auch stark zu schaffen macht, ist der eingeschränkte Aktionsradius. In Berlin bin ich oft kilometerweit und stundenlang unterwegs, hier dagegen nur 800 Meter bis zur Schule. Anfangs war dafür sogar noch Begleitung durch Baba nötig, damit die Wachhunde der Nachbarschaften uns nicht „angreifen“. Unterdessen kennen Sie uns und wir können am Tag auch allein den kurzen Weg laufen. Im Dunkeln ist das jedoch schon wieder keine gute Idee, wie wir gestern bei einem Spaziergang herausgefunden haben.
Bis zum Dorf Alegaon ist es dann doch immerhin 1 Kilometer. Alle anderen Ortschaften können nur mit dem Motorrad erreicht werden und das muss man halt organisieren bzw. mit dem Rest der Familie abstimmen. Somit ist mein Aktionsradius enorm eingeengt.

Überall wird man aufgefordert, sich zu setzen. Wir dürfen uns auch nicht auf den Boden setzen sondern bekommen einen Plastikstuhl angeboten; in der Schule beim Gespräch mit den Lehrern, beim Abendessen in einer Gastfamilie, man sitzt natürlich auch auf dem Motorrad und im Schatten vor dem Haus…

Wohin kann ich mal laufen, wie komme ich in Bewegung? Von 8:30 bis 14:30 Uhr sind wir bisher in der Schule. Danach laufen wir nach Hause und machen bis 16:30 Uhr nix. Anschließend wird Wäsche gewaschen oder Lebensmittel auf dem Markt eingekauft und dann ist es auch schon dunkel. Diese Abhängigkeit ist für mich schwer zu ertragen und nimmt mich gerade etwas mit. Ich habe mir vorgenommen, meine bisherige Tagesstruktur nochmal zu überdenken!
Immerhin habe ich heute mal gegen 17:30 Uhr für 20 Minuten ein paar Sportübungen auf der Terrasse vor der Schule gemacht. Und sofort war die Stimmung wieder gut!

Ich finde schon noch meinen Rhythmus, dauert halt alles etwas. Wir sind ja auch erst 1,5 Wochen hier vor Ort. Na ja, Geduld war noch nie meine Kernkompetenz. Ich arbeite dran!

Landwirtschaft

In „unserer neuen heimischen“ Landwirtschaft hat sich in den letzen Tagen einiges getan. Der Schwerpunkt liegt auf der Versorgung von nunmehr 10 Kühen, so dass diese möglichst viel Milch geben. Vor zwei Tagen wurde erst eine neue Kuh gekauft und am Abend auch gleich geliefert. Derzeit steht sie separat im Gehege mit zwei unterschiedlich alten Jungtieren.
Es existiert sogar eine kleine mobile Melkmaschine und 2 x täglich werden alle 10 Kühe gemolken. So kommen insgesamt 2 x 60-80 Liter zusammen, die dann an den Serpanch (Dorfvorsteher) verkauft werden. (Zum Vergleich: eine deutsche Milchkuh liefert ca. 30-40 Liter am Tag) Der Serpanch fungiert als Zwischenhändler für die Firmen in der Stadt. Unterdessen haben wir jedoch gelernt, dass die Milch der Kühe von den Einheimischen als minderwertig angesehen wird. Die Büffelmilch dagegen ist höherwertig und wird kleinen Kindern 2 x täglich gegeben, damit sie Abwehrkräfte bekommen. Am hochwertigsten ist jedoch die Milch der weißen heiligen Kühe.

Außerdem wurde ein neuer Kuhstall gebaut. Da hat die halbe Nachbarschaft mitgeholfen.

Dazu passend gab es dann auch gleich noch einen neuen Futterunterstand und so ist das „Milchkuhgeschäft“ erfolgreich erweitert worden.

Die gesamt Familie war heute mit dem Dreschen von Hirse beschäftigt. Auf dem Dach des Haupthauses lagen tagelang zum Trocknen Hirserispen. Diese wurden von den beiden Frauen, Shria und Mangal, in Säcke gestopft.

Hinter dem Haus wurde extra eine Dreschmaschine aufgebaut. Ein richtig historisches Teil. Die Männer schleppten die Säcke also zu dieser Maschine, schütteten die Rispen in den oberen Trichter und unten füllte sich dann schrittweise ein Sack mit den Hirsekörnern. Die Abfallspäne flogen in kleinen Stücken hinten aus der Maschine raus und bildeten schnell einen kleinen Berg.

Die Frauen haben meine absolute Hochachtung. Sie arbeiten am meisten und am längsten von allen, besonders die jungen Frauen. Bisher bin ich immer davon ausgegangen, dass „nur“ die Hausarbeit und die Kids in ihre Zuständigkeit fallen und die Versorgung der Familie sowie das Business die Männer verantworten. Heute ist mir jedoch klar geworden, dass auch die harte Arbeit in der Landwirtschaft teilweise mit von den Frauen übernommen wird. Das hatte ich so in dem Umfang nicht erwartet.

Gestern zum Sonntag haben Thomas und ich einen Spaziergang durch‘s Dorf gemacht. Wir haben eine Hose zum dortigen Schneider gebracht. Der saß in einem Holzverschlag mit einer Nähmaschine, die noch mit dem Fuß angetrieben werden musste und nähte ein neues türkis-kariertes Herrenhemd. Das sah nicht nur farbig sondern auch qualitativ gut aus. Gegenüber vom Schneidermeister bestellten wir ein Huhn zum Abendessen für die Familie (beim Abholen am Abend sollte es nicht mehr leben und bereits ausgenommen sein). Wir schlenderten einfach etwas herum und versuchten möglichst unauffällig, was natürlich nicht immer gelang, das Dorfleben zu beobachten.

Hier stellen zwei Frauen gerade diese dünnen asiatischen getrockneten Griessnudeln her, die es bei uns abgepackt in den Asiashops zu kaufen gibt. In Indien werden sie als Süssspeise mit Milch und Zucker gegessen.
Was alles auf dem Kopf und wie viel auf einem Motorrad transportiert werden kann, ist-wie in anderen asiatischen Ländern auch- gigantisch. Wir haben Schwierigkeiten eine Tasche zusätzlich mitzunehmen und hier wird der ganze Hausstand, die komplette fünfköpfige Familie oder enorme Futtermengen für das Vieh auf diesem traditionellen Weg bewegt. Auf dem Land sind ausschließlich die Männer motorisiert unterwegs. In den Grossstädten fahren dagegen auch Frauen Motorrad oder Mofa.

Ravi, der Sohn unserer Gastgeber, transportiert hier ausnahmsweise mal nur die Hälfte des gerade frisch geschnittenen Maises. Das bekommen dann die Kühe gleich am Abend.

Die Armut ist unbeschreiblich. Niemand kann sich in Europa vorstellen, dass Menschen so leben. Hütten mit Wellblechdächern sieht man abseits der Dorfhauptstrasse überall. Mit hängenden Decken oder Matten wird versucht, kleine Bereiche abzutrennen. Privatsphäre gibt es nicht. Die Großfamilien besteht mindestens aus 3 Generationen, und meist leben auch noch Schwägerin/ Schwager oder verwitwete bzw. noch nicht verheiratete Familienangehörige mit im Haus. Ebensowenig existieren richtige Toiletten, nach unseren Vorstellungen. Viele der älteren Farmer/innen gehen zu ihren täglichen großen und kleinen Geschäften nach wie vor auf ihre Felder. Somit wäre schonmal gedüngt. Fehlt halt nur noch die Bewässerung.
Das Leben spielt sich zu 90% draussen ab: auf der Straße, auf dem Schotterweg oder direkt auf der Treppe vor dem Haus. Die Männer sitzen auf einer überdachten großflächigen Terrasse direkt auf dem Marktplatz in unmittelbarer Nähe zum Tempel und schauen dem Treiben um sie herum zu.
Kinder kennen kein Spielzeug. Sie nutzen alles was herumliegt wie z. B. Plastikmüll, Teile kaputter Haushaltsgeräte oder was die Umgebung hergibt wie z. B. Steine, Samen und Stöcke. Oft jagen sie in Scharen einfach nur laut kreischend durchs Dorf.
Gekehrt wird mit Reisigbesen oder gebundenen Palmblättern, gekocht wird auf offenem Feuer mit Holzscheiten. Es gibt zwar überall in den Häusern kleine Gaskocherstellen, die jedoch nur vereinzelt beim Kochen des Essens verwendet werden. Heißes Wasser wird nur über offenem Feuer gemacht. Daher werde ich leider hier nicht das Kochen erlernen. Aber Anregungen bekomme ich allemal.

Natürlich mache ich auch Hausarbeit, z. B. habe ich schon Wäsche gewaschen. Das nimmt allerdings etwas mehr Zeit in Anspruch, da ich nicht nur auf den Startknopf der Waschmaschine drücken muss.
Die Wäsche ist durch den täglichen Staub und das regelmäßige Sitzen auf dem Fußboden sehr schmutzig und es reicht nicht aus, diese „ nur einmal kurz durch‘ s Wasser zu ziehen“, wie wir das üblicherweise mit verschwitzten Sommersachen auf Reisen machen würden.
In einem Eimer mit Speewasser wird für ca. 15 Minuten die Wäsche eingeweicht. Dann schlage und rolle ich jedes einzelne Kleidungsstück mehrfach auf einem Stein. Das Schmutzwasser daraus läuft in den total vermüllten Hintergarten ab. Danach wird die Wäsche gespült und zum Trocknen auf eine Leine gehangen. Das Trocknen geht dagegen relativ fix und in nur 20 Minuten liegen alle Sachen wieder frisch gewaschen im Schrank. Es hat also alles wie immer zwei Seiten!
Das Wäschewaschen erfolgt im Hocken, da es keine erhöhten Flächen, Becken o.ä. gibt. Bisher bereitet mir diese Position Schwierigkeiten, doch ich denke, die europäischen, büroverwöhnten Gelenke gewöhnen sich mit der Zeit noch an diese neue Möglichkeit. Bis es soweit ist, Wäsche ich vorerst täglich kleine Mengen.

Indische Zeit

Heute habe ich zum ersten Mal den Unterschied zwischen deutscher und indischer Zeit erfahren.
Wir waren 14 Uhr zu einer Tanzaufführung eingeladen worden, die im Kulturhaus von Sangola stattfinden sollte. Da wir die Sonntagsmittagshitze ruhig und entspannt im klimatisierten Bollywood-Filmkino verbringen wollten, sagte Thomas erst für 15 Uhr zu. „Das reicht für indische Zeitverhältnisse auch noch aus!“, meinte er.
Da das Kino leider gar nicht geöffnet hatte, bummelten wir über einen phantastischen Lebensmittelmarkt in der Stadt. Dort besorgten wir etwas Gemüse für die nächsten Tage, da wir schließlich weiterhin so lecker bekocht werden möchten!
Nach etlichem Hin und Her und einigen Telefonaten mit dem Veranstalter, wo wir uns mit ihm treffen sollten, kamen wir gegen 15:15 Uhr in dem Kulturhaus an. Baba, der uns zur Tanzaufführung begleiten wollte, um netterweise darauf zu achten, dass wir nicht von einer Zeremonie zur nächsten weitergereicht werden, kam zeitgleich mit uns an. Das Kulturhaus kann man für richtig große Veranstaltungen ab 200 Personen (z. B. Indische Hochzeiten) buchen. Einige Besucher waren bereits da. Moderne indische Musik dröhnte aus riesigen Lautsprechern, ein Moderator war noch beim Soundcheck und Kinder tobten die Gänge entlang. Es war ein ohrenbetäubender Lärm. Alle Besucher waren festlich gekleidet und wir wurden gleich in die erste Reihe des riesigen Saales platziert. Dort standen dunkelrote, mit Goldmuster versehene Metallbänke, die jedoch noch mit der Einkaufsschutzfolie bespannt waren. Nach wenigen Sekunden war ich durchgeschwitzt und ich befürchtete nasse Schweissflecken beim Aufstehen.
Der Veranstalter kam und erklärte uns, das Tanzevent würde in 10 Minuten beginnen und vorher könnten wir uns ja noch traditionelle „Rangoli“ anschauen, die heute während eines Wettbewerbs entstanden seien. Außerdem sollten wir am Ende der Veranstaltung gegen 18:00 Uhr den 3 besten Tanzperformances die Preise übergeben. Ich bekam schlechte Laune aber nun ging es ja erstmal zu den „ Rangoli“.

Das sind auf den Fußboden aufgebrachte Sandgemälde. Mit feinstem, farbigen Sand werden wundervolle Muster gestaltet. Diese entstehen häufig bei öffentlichen Zeremonien vor einem Tempeln. Leider sind die „Rangoli“ nicht von langer Schönheit, da sie ganz schnell vom Wind und dem üblichen Strassenstaub zerstört werden.
Bei unserem Rundgang und der Besichtigung der Sandgemälde tauchte plötzlich die lokale Presse auf und wir mussten wieder mal ein kleines Video-Interview geben. Ich war pappe satt. Niemals wird im Voraus gesagt, was man zu erwarten hat, geschweige denn wird gefragt, ob man das alles machen will. Es werden einfach Tatsachen geschaffen. Ich war stinkig!
Wir kehrten in die Halle zurück, unterdessen war es 16:20 Uhr und die Show hatte noch immer nicht begonnen. Dafür hatte sich der Saal weiter gefüllt. Jeder zweite Besucher wollte ein Foto mit uns. Meine Laune verschlechterte sich weiter. Thomas frage erneut nach, wann es denn nun endlich starten würde und bekam „… in 10 Minuten geht es los.“ zur Antwort.
Baba war mit seinen 72 Jahren auch ersichtlich erschöpft und von der zeitlichen Verzögerung und der Lautstärke im Saal angenervt. Er schlug vor, einen Tee trinken zu gehen. Wir suchten also einen kleinen Straßenstand, gleich vor dem Kulturzentrum auf und ich wurden mit frisch zubereitetem Tee wieder positiver gestimmt.
16:45 Uhr zurück im Kulturhaus und noch immer war von einem baldigen Beginn der Tanzveranstaltung nichts zu spüren. Statt dessen wurden nun erst einmal drei VIP-Chairs vor die Bühne gestellt, auf denen drei Herren (vermutlich die Jury) Platz nahmen.
Thomas war unterdessen auch frustriert und suchte zum dritten Mal den Veranstalter auf, um ihm mitzuteilen, dass wir 17 Uhr den Saal verlassen würden, sofern bis dahin die Veranstaltung noch nicht begonnen hätte. Unterdessen warteten wir 1,5 Stunden und eigentlich waren wir ursprünglich ja bereits zu 14 Uhr eingeladen worden. Ich konnte es nicht fassen. Das war mehr als indische Zeit!  Etwas enttäuscht wegen der langen und vergeblichen Wartezeit, da wir ja von der versprochenen tollen Tanzveranstaltung nichts mitbekamen, fuhren wir tatsächlich 17 Uhr mit dem Motorrad zurück zum Dorf. Alle sollten mal die „deutsche Pünktlichkeit“ oder zumindest die Konsequenzen wahrnehmen! Doch grundsätzlich wird sich natürlich nichts an der indischen Zeitvorstellung ändern. Ich muss lernen, geduldig zu sein und das Warten sinnvoll zu füllen. Sicherlich hatten wir trotz allem tolle Begegnungen und unterhaltsame Kommunikation. Dies alles anders wahrzunehmen, fällt mir schwer. Ich hänge doch sehr an zeitlichen Strukturen. Hier ist also meine Lernaufgabe in den nächsten Monaten, wie bereits erwartet.