Unsere verbleibenden Tage hier im Stadtteil Kiyovu können wir nun an einer Hand abzählen. Am 1. Augustwochenende ziehen wir nach 10 Wochen zurück nach Kicukiro. Einerseits freuen wir uns sehr auf “unser” zu Hause mit neuer Zufahrtsstraße und funktionierendem Wasseranschluss, mit dem wuseligen lauten “Landleben” bedingt durch Märkte und kleine Straßenstände und der damit verbundenen Betriebsamkeit der Einheimischen. Andererseits müssen wir dringend noch einmal über andere Möglichkeiten für mich in Bezug auf Tagesstrukturierung und soziale Anbindung nachdenken. Ich habe schon ein wenig Sorge, dass mir diese örtliche Abgeschiedenheit nicht so gut bekommt und ich wieder täglich mehr Kraft, Eigenmotivation und Zeit in meine Mobilität investieren muss. Aber noch ist es nicht so weit. Außerdem planen wir nach wie vor im August einen 2,5-wöchigen Urlaub in Deutschland und wollen am 08.08. unbedingt bei der Hochzeit meiner Freundin Tutti im Spreewand dabei sein.
Vorerst nutzen wir somit die Annehmlichkeiten der Citylage noch ein wenig aus, verabreden uns fußläufig zum Mittagessen in einem indischen Streetfood-Restaurant oder spazieren auf einen Kaffee ins “Baso” oder ins “WOO-HAH”. Das werden wir in dieser Fülle in Kicukiro nicht mehr haben.
Von den Guards, die hier auf dem Grundstück täglich für unsere Sicherheit und einen gepflegten Garten sorgen sowie Solange in unserer Abwesenheit versorgen, haben wir uns mit einem Abendessen bereits “verabschiedet” . Ich hatte einen Salat vorbereitet, Tofu und Fleisch eingelegt und Bier eingekauft. Thomas brachte auf seinem Feierabendweg noch ein frisches Baguette mit und so konnten wir gegen 17:30 Uhr den Grill anfeuern.
Faustin und Jean Pierre, unsere Hauptansprechpartner für Haus und Garten in der Zeit, freuten sich schon den ganzen Tag auf unser gemeinsames Abendessen. Die Verständigung würde nicht ganz einfach werden, da nur Faustin etwas englisch spricht.
Es wurde ein entspannter und schöner Abend! Beide Männer berichteten uns ein wenig über ihr Leben. Um zu arbeiten, wohnen sie getrennt von ihren Familien. Die Frauen sind in den jeweiligen Heimatdörfern geblieben, versorgen dort 3 bzw. 4 Kinder und arbeiten auf der eigenen kleinen Farm. Unregelmäßig besuchen Faustin und Jean Pierre ihre Familien.
Faustin wohnt auf dem Gelände in der Garage gleich neben unserem Haus und dem Autostellplatz. In dem einzigen Raum steht sein Bett und ein kleiner Tisch sowie einige Regale, in denen sich Vorratssäcke und die Gartengeräte befinden. Eine Toilette und eine Waschmöglichkeit befinden sich hinter dem Haus in einem separaten Verschlag. Die Toilette wird auch von den anderen zwei Guards (Nachtschicht) mit genutzt.
Faustin muss sich selbst versorgen und kocht zum Mittag täglich Reis mit Gemüse auf offenem Feuer gleich hinter der Garage. U. a. hat ihm diese einseitige Ernährung zahlreiche Krankheiten eingebracht. Er ist 52 Jahre alt und leidet an Diabetes, Bluthochdruck, Gelenk- und Magenbeschwerden und sagt selbst von sich, “ich fühle mich, wie ein alter Mann”. Allerdings hat er auch in der Rwandischen Armee gedient und daher viele Dinge erlebt, die die Seele ohne professionelle Begleitung wahrscheinlich nicht verarbeitet. Faustin ist eines von 10 Kindern und so herrschte vermutlich in seiner Familie auch ein anderer Umgang mit den Problemen des Alltages. Er ist in Uganda aufgewachsen und später in seine Heimat Ruanda zurückgekehrt.
Für das tägliche Zähneputzen und das Waschen seiner Wäsche nutzt Faustin den Außenwasseranschluss vor der Garage. Er steht täglich 6 Uhr auf kehrt den Hof, verschneidet Bäume und Sträucher, füttert die Hühner und kümmert sich um den Gemüsegarten. Ab und an putzt er auch das Auto/Motorrad. 17 Uhr macht er zum Abschluss seines Arbeitstages noch einen Spaziergang mit Solange. Das ist alles vertraglich so geregelt und dafür wird er bezahlt. Montags und sonntags hat Faustin frei. Er ist dann natürlich auch auf dem Gelände, da er aus finanziellen Gründen keine Ausflüge unternehmen kann und Besuch bekommt er nicht. So schön das Grundstück auch ist, in meinen Augen ist er im “goldenen Käfig gefangen”.
Jean Pierre teilt sich ein kleines Zimmer mit seinem ältesten Sohn (21 Jahre) im Nachbarstadtteil Kimihurura. Stolz zeigte er uns Fotos von seiner Familie. Die Tochter heißt auch Sonja, daher hatte ich wohl gleich von Anfang an einen Sympathiebonus. Dreimal in der Woche arbeitet er auch auf dem Gelände und kümmert sich um den Garten. Die anderen Tage geht er einer Zweitbeschäftigung nach. Für seinen Weg zur Arbeit braucht er je eine Stunden für den Hin- und für den Rückweg. Das Geld für ein Motorradtaxi hat er nicht.
In den letzten Wochen, da wir uns unterdessen etwas besser kannten, habe ich von unseren Lebensmitteleinkäufen immer mal etwas für die beiden mitgebracht. Sie freuten sich über frisches Obst und Gemüse, zuckerfreie Getränke aber auch über Kekse oder Süßstoff für Diabetiker. Für diese minimale Abwechslung bedankten sie sich hundertmal.
Sofern ich gekocht oder Thomas gebacken hatte, teilten wir ebenfalls mit Faustin und Jean Pierre. Es ist ein bedrückendes und überaus beschämendes Gefühl zu erleben, wie die Basisversorgung an gesunden Lebensmitteln und damit eine abwechslungsreiche Ernährung für sie nicht möglich ist. Nach unserem “Abschiedsessen” holte Jean Pierre eine Plastikdose und verpackte die Reste zum Mitnehmen für seinen Sohn. Auch das halbe Baguette teilten sich die beiden Männer und waren dafür unendlich dankbar. Es hilft ihnen, mit ihrem schmalen Budget auszukommen.
Wie es mir dabei ging, ist eigentlich unbeschreiblich. Scham, Wut und Hilflosigkeit machen sich breit. Für uns sind “nur” diese beiden Männer im unmittelbaren alltäglichen Fokus. Jedoch gibt es in Ruanda noch unzählige Familien, nicht nur auf dem Land, die sich um die Sicherstellung der täglichen Lebensmittelversorgung sorgen müssen. Wie kann und soll man diesem Problem begegnen? Es besteht schon so lange und die Welt mit all ihren internationalen Hilfsorganisationen ist nicht in der Lage, nachhaltig zu unterstützen. Das bedrückt mich sehr.
Faustin berichtete uns beim Essen auch, dass in seinem Dorf noch nicht einmal eine zentrale Wasserstelle vorhanden ist. Seine Familie und das gesamte Dorf holen Wasse aus den umliegenden Sümpfen. Das man dadurch gesundheitliche Probleme bekommt, ist absolut vorstellbar. Trotzdem nehmen die beiden Männer die Herausforderungen ihres Lebens an und sind uns gegenüber trotzdem freundlich und auch aufgeschlossen. Ablehnung und Neid spüren wir nicht. Es kommen ihnen keine Klagen oder Forderungen über die Lippen. Das Leben ist, wie es ist und sie leben es.
Bei allen Herausforderungen, die die Coronapandemie für uns und unsere Familien, Freunde und den gesamten europäischen Kontinent noch bereit hällt, werde ich versuchen, immer wieder an diese beiden Männer zu denken und meine Unzufriedenheit damit zu relativieren.