Ankunft in einer anderen Welt

Thomas hatte für mich extra einen Flug nach Ruanda über die Türkei gebucht, da ich so 40 kg Gepäck statt nur 23 kg mitnehmen konnte. Und wie sich herausstellte, war diese Option genau richtig. 40 kg waren in Berlin schnell in zwei großen Hartschalenkoffern verpackt, die ich extra von meinen Eltern mitgenommen hatte. Bisher waren wir ja immer nur mit überschaubarem Rucksackgepäck unterwegs, man musste es schließlich die gesamte Urlaubszeit über tragen können. Nun stand allerdings eine „kleine Auswanderung“ bevor.

Am 15.08.2019 landete ich 23:38 Uhr in Kigali, der Hauptstadt von Ruanda.

Nur 15 Autofahrtminuten vom Flughafen entfernt, liegt unser neues zu Hause. Eine Adresse gibt es nicht. Lediglich Bezirk und Ortsteil werden benannt. Wir wohnen in Kicukiru, Kagarama, Muyange, in der Nähe der Muyange Primary School und die Straße ist mit KK 468 beziffert. Diese liegt jedoch etliche Gehminuten von unserem Haus entfernt. In Deutschland würde unsere Adresse vergleichsweise wie folgt lauten: Treptow-Köpenick, Köpenick, Friedrichshagen, in der Nähe des alten Rathauses. Die Straße könnte die Friedrichshagener Str. sein. Post an so eine unkonkrete Adresse zu versenden, ist daher verständlicherweise nicht möglich.

Unser Anwesen ist richtig luxuriös, eine herrschaftliche Villa. Die Anfahrtswege jedoch sind katastrophal. Durch Straßenbauarbeiten bestehen überall tiefe Gräben, liegen aufgeschüttete verkrustete Erdberge, stapeln sich Feld- und Pflastersteine und es ist unbeschreiblich viel feiner trockener, rostroter Staub in der Luft. Er kriecht in jede Ritze, setzt sich sogar im Haus auf den Fussböden und einfach überall ab. Selbst geschlossene Schränke bleiben nicht verschont. Die Fusssohlen verfärben sich rötlich, sobald man barfuss durchs Haus läuft. Unglaublich! Wischen im Akkord ist angesagt. Wollte ich nicht abschalten und ausspannen?

Das mache ich auch! Erst einmal die Terrasse mit filmreifem Ausblick geniessen!

Rückkehr und Neuanfang

Thomas und ich hatten von März bis August 2018 eine sehr intensive und auch arbeitsreiche Sabbatzeit in Indien verbracht. Land und Leute waren uns dabei sehr ans Herz gewachsen. Nur schwer und tränenreich hatten wir von unserer Gastfamilie in Alegaon und Pune (Maharashtra) Abschied genommen.

Trotzdem! Ich freute mich auf Berlin, auf unser zu Hause, auf unsere Freunde, die Familie und natürlich auch auf den Job. Das halbe Jahr in Indien war einerseits lang und sehr ereignisreich, andererseits reichte es jedoch nicht aus, um schlechte Gewohnheiten abzulegen und Neues im Alltag einzubinden. So waren wir mit all unseren guten Vorsätzen und einem großen Veränderungswillen doch relativ schnell wieder in „good old Germany“ angekommen.

Kurz nach unserer Rückkehr bahnte sich bereits im Oktober 2018 ein Jobwechsel bei mir an. Thomas suchte intensiv nach einer passenden Stelle als Projektleiter (am liebsten mit internationaler Einbindung!).

Am 01.12.18 wechselte ich dann bei meinem langjährigen Arbeitgeber, der Stephanus gGmbH, von meiner Stelle als Leiterin eines ambulante Betreuungsbereiches für Menschen mit kognitiven Einschränkungen in die Hauptgeschäftsstelle des Geschäftsbereiches Wohnen & Assistenz. Dort nahm ich als Referentin für Projekte und Projektmanagement eine sehr interessante und herausfordernde Stelle an. Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetztes (BTHG) für den Geschäftsbereich und die verbundenen Service- sowie Vorstandsbereiche stand auf dem Plan. Das multiprofessionelle Projektteam bestand aus ca. 12 Leuten der Bereiche Facilitymanagement, IT/Software und Dokumentation, Compliancemanagement, Bereichs- und Unternehmenscontrolling, Qualitätsmanagement, Pädagogik, Strategisches Projektmanagement sowie Unternehmenskommunikation.

Dass ich mich innerhalb eines Jahres erneut mit dem Gedanken, für längere Zeit in eine „andere Welt“ zu reisen, tragen würde, war für mich unvorstellbar. Und doch kam es genau so.

Thomas erhielt im Dezember 2018 ein Angebot für eine Stelle als Projektmanager bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Ruanda. Ruanda? Wo ist das denn? War da nicht…? Unvorstellbar! 1994 Massengenozid! Hutu! Tutsi! Ich kannte nur Schlagworte und war beunruhigt und verunsichert.

Wir hatten nach zahlreichen Gesprächen und intensiven Diskussionen beschlossen, jeder von uns nimmt seine neue berufliche Tätigkeit auf, bringt das eigene Projekt voran und wir reisen viel „zwischen den Welten“ hin und her. Selbstverständlich wollten wir täglich miteinander telefonieren. Später würde ich dann für eine begrenzte Zeit nachkommen. Thomas begann seine Arbeit im Februar 2019. Ein anspruchsvolles Projekt! Er soll den Aufbau von Strukturen bei RISA (Rwanda Information Society Authority), einer Organisation, die dem Ministerium für ICT (Innovation, Communication, Technology) angeschlossen ist, initiieren. Digitalisierung spielt dabei eine ganz besondere Rolle.

Unsere Überlegungen, an getrennten Orten zu leben und zu arbeiten, erwies sich als nicht tragfähig. Im Alltag ohne den geliebten Menschen auszukommen, war für uns beide sehr schwer und so fällten wir erneut eine weitreichende Entscheidung. Ich würde nach Ruanda kommen und im Job eine unbezahlte Freistellung beantragen. Diesmal nicht nur für 6 Monate, sondern bis zum Projektende am 31.12.2020. Anderthalb Jahre!

Es begann für mich eine Zeit intensiver Vorbereitungen:

  • Haus zur Vermietung vorbereiten, d. h.
  • Ausräumen, aussortieren und Sachen verstauen
  • Hausschlüssel nachmachen, da unterschiedliche Parteien das Haus nutzen würden (Eltern, Freunde, Airbnb)
  • Auslandskrankenversicherung abschließen
  • Rentenversicherung klären
  • Visum beantragen
  • Möglichkeiten für die Nutzung unseres Autos bedenken
  • Impfungen erneuern und anpassen
  • Wichtige Berufs- und Studienabschlüssen notariell beglaubigen lassen
  • Erste Besuchsreise nach Ruanda für 1 Woche im Mai planen
  • Überlegungen, was ich in den 1,5 Jahren in Ruanda machen könnte und dazu Kontakte knüpfen, Institutionen anschreiben etc.
  • Planung der Abschiede, Treffen mit Freunden, Familie und Kolleg*innen

All diese Dinge waren für mich sehr emotional und haben mich zeitweise an meine Grenzen gebracht. Erneut habe ich jedoch erfahren dürfen, wie unterstützend und motivierend mein soziales Umfeld, beginnend mit der Familie und den Freunden aber auch mit den neuen Kolleg*inn ist. Ich bin überaus dankbar für so viele liebe Menschen um mich herum.

Dann bin ich also mal weg. 1,5 Jahre in Ruanda!

Meine Eltern verabschieden mich persönlich am Flughafen Tegel. Meike ruft kurz vorm Check in noch einmal an und wir „drücken“ uns durchs Telefon. Auch Lotti, Daggi, Gisela, Alex und viele Feund*innen melden sich kurz vorm Start. Der Abflug fällt mir immer schwerer und mein Blick verklärt sich durch Tränen.

Gorillas und Vulkane

Letztes Wochenende habe ich mich spontan entschlossen, mit zwei Studenten in den Norden mitzufahren, um in den Vulkanbergen zu wandern. Das Gebiet ist ja eigentlich wegen der Gorillas bekannt. Allerdings muss man für eine Sunde Gorillabesuch ca. 1500 Dollar bezahlen. Das ist sicherlich ganz nett aber außerhalb jeder Diskussion für mich. Eine Eintagestour auf den Bisoki mit Führer kostet 50 Eur. Die Tour dauert ca. 8h für 17km und 1000 Höhenmeter. Soweit die Fakten. Auf dem Weg dahin passiert man die typischen ländlichen Lehmhütten, die Gegend selbst hat sich mittlerweile ein wenig auf Touristen eingestellt. Der Startpunkt ist für alle der selbe. Es mischen sich also einfach Tourengeher mit exzentrisch reichen Amis, die sich die letzten Gorillafamilien ansehen wollen, die es noch gibt.

Vom Wetterbericht nicht so richtig vorhergesagt, gab es am Morgen bevor wir losgingen einen heftigen Regen, was sich dann später ziemlich auf die Tour auswirkte. Trotzdem ging es dann voller Enthusiasmus los.

Der Auf- und Abstieg geriet dann zum Schlammspektakel. Ein kleiner Tip – vermeidet es, bei schlammigen Verhältnissen mit profillosen Sneakern einen moderigen Berg hinaufzukrauchen. Das kann anstrengend werden.

Begleitet wurden wir natürlich wieder wie in Indien von Wildhütern mit Gewehr, Gorillas haben wir natürlich nicht gesehen, auch wenn wir an einer der Familien wohl ziemlich nah vorbeigelaufen sind.

Irgendwann waren wir dann aber wieder unten – ich war unterwegs ziemlich an meinen Grenzen, bin die letzten 100 Höhenmeter kaum vorangekommen, was sicher ein wenig mit der Höhe zu tun hatte – und natürlich damit, dass ich ein wenig aus der Form war.

Geburtstag in der Fremde

Es ist mal wieder soweit – ein weiterer Geburtstag in der Ferne – diesmal sogar ohne Sonni, was dieSituation nicht wirklich besser macht. Da ich jedoch mittlerweile in unser neues Zuhause eingezogen bin, habe ich mich kurz entschlossen durchgerungen, einen Teil meiner Kollegen zu einer kleinen Party einzuladen. Organisiert wird das alles ziemlich einfach. Man besorgt vom lokalen Hochzeitsausstatter 25 Stühle und zwei Tische, die auf Fahrrädern angeliefert werden.

Ich baue einen kleinen Geburtstagsschrein, damit Sonni wenigstens virtuell anwesend ist – da es Ostern ist, gab es sogar noch ein Osterlamm dazu.

Dann kommen noch zwei Kästen Bier dazu und eine Flasche Wein – den Rest an Getränken bringen die Gäste mit. Wichtig ist dann noch die Musik – dafür haben wir die Anlage der Eltern eines Kollegen abgebaut, damit es auch ordentlich laut ist – war auch ordentlich laut. Wichtig ist natürlich das Essen – dazu wird eine ganze Ziege am Markt gekauft und mit einem halben Tag Vorlauf zu Brochettes verarbeitet – das sind Fleischspieße, die mit viel Tomatentunke und weiteren Gewürzen veredelt werden und anschließend gegrillt. Dabei wird von der Ziege jedoch wirklich alles verarbeitet – alles! Beliebte Spezialität sind die Brochettes, die die Innereien dann verarbeiten. Dazu wird alles in den Darm gestopft, gekocht, in Scheiben geschnitten, gewürzt und dann gegrillt. Es schmeckte viel besser als der Herstellungsprozess vermuten ließ. Nur die Konsistenz war ein bisschen – ähm —— wenig, würde ich sagen.

Dann wurde die Musik aufgedreht und getanzt – was bei den Einheimischen ein wirklich sehenswerter Anblick ist – die können sich alle bewegen – egal in welcher körperlichen Verfassung – dick oder dünn – fit oder gebrechlich – hässlich wie die Nacht oder schön wie Sonni. Sehr beeindruckend und für mich selbst ein wenig beschämend. Aber Spaß hat’s gemacht. Hier noch ein paar Bilder von der Party.

Remember

Die letzten beiden Wochen bin ich in vielen Veranstaltungen eingebunden gewesen, die zum Gedenken der Toten vor 25 Jahren stattfinden. Vieles davon passiert wirklich auf staatlicher Ebene, so dass man leicht annehmen könnte, dass dies alles nur staatlich gelenkt ist. Zum Beispiel gibt es ein einheitliches Logo, dass überall verwendet wird, und hier zum Beispiel an den an diesem Tag geschlossenen Restaurants angebracht ist.

Je mehr man jedoch in Kontakt mit den Bewohnern kommt, desto stärker wird einem bewusst, wie stark dieses Thema im Alltag aller Bewohner verankert ist. Meine Kollegen auf Arbeit verbringen im April sehr viele The bei Gednkfeierlichkeiten für Angehörige, sei es am 14. April für den Vater, am 17, April für den Onkel oder am 19. April für die Tante mit den Kindern. Es dreht einem das Herz um, wenn man merkt, wie tief die Wunde ist, die hier vor 25 Jahren geschlagen wurde.
Auch wenn man teilweise schon eine leichte Distanz zu der institutionalisierten Trauer mitbekommt (eine Kollegin lästerte über eine andere vor Kurzem – sie würde wohl gerötete Augen haben, da sie die ganze Woche geweint habe) – ist doch im Allgemeinen die Auseinandersetzung für mich echt und wenig gesteuert.
Ein Kollege erzählte mir, dass zu Beginn das ganze Land von April bis Juli nicht arbeitsfähig war – alle trauerten und fuhren zu den Orten der Massaker an ihren Familienangehörigen. In dieser Zeit fanden keine Feste oder Parties statt. Später versuchte man dann das ganze zu kanalisieren und auf die Woche nach dem Start des Massakers zu beschränken. Die meisten nutzten dann diese eine Woche um ihre Heimat zu besuchen und it ihren verbliebenen Angehörigen zu trauern. Mittlerweile ist seit diesem Jahr auch diese eine Woche de facto eine volle Arbeitswoche, auch wenn am Nachmittag viele Veranstaltungen stattfinden.

Sonntag

Die größte offizielle Veranstaltung ist die Feststunde im Amahoro Stadion, das während des Genozids einer der wenigen Zufluchtsorte war.  Sie ist der Endpunkt des “walk to remember” der vom Parlament bis zum Stadion führt und von der gesamten eigenen und geladenen Politprominenz angeführt wird. Die Stadt ist in einem totalen Ausnahmezustand. Dauernd werden irgendwelche Staatsgäste empfangen, begleitet, verabschiedet. Aus Deutschland war Horst Köhler da. Die Feierstunde selbst sehr unprätentiös, einige Reden, ein Chor und der Bericht eines Zeitzeugen. Während dieses Berichtes brachen einige Besucher hysterisch zusammen und mussten nach draußen gebracht werden. Einige davon waren jedoch laut eines Kollegen von mir, der näher dran saß, jünger als 25 Jahre und konnten eher nicht die eigenen Erlebnisse sondern eher die der Bekannten oder Verwandten verarbeitet haben. In meinem Umfeld war es eine ältere Frau, die von ihren Nachbarn und Ordnungspersonal nach draußen geleitet wurde.
Zur Musik gab es Kerzen, was insgesamt als das Licht gelöscht wurde, einen sehr bewegenden und berührenden Moment ergab.

Lange Schlangen am Einlass

Eine Flut von Kerzen

Montag

Am Montag Nachmittag gab es sozusagen politische Bildung. Am Nachmittag gab es direkt bei meinem Arbeitgeber für alle Mitarbeiter eine obligatorische Veranstaltung in der über Planung und Ausführung des Genozids gesprochen wurde. Leider wurde sowohl Präsentation als auch Fragestunde in Kinyarwanda gehalten, so dass es für mich schwer war zu folgen. Immerhin konnte ich einiges von der Präsentation life übersetzen. Für mich war es dabei interessant, herauszubekommen, ob die Erinnerungskultur tatsächlich mit der aktuellen Regierung verwoben wird, wie ich es eigentlich vermutet hatte und auch aus DDR-Zeiten so kannte. Es kamen jedoch m.E. keine der üblichen Phrasen vor – In der ganzen Präsentation fehlten die Begrifflichkeiten für die RPF oder Paul Kagame. Auch den Feedbacks der Mitarbeiter zu Folge ging es im Wesentlichen tatsächlich um die Geschichte und Durchführung des Genozids.

Mittwoch

Die die offizielle Gedenkveranstaltung meines Arbeitgebers fand gemeinsam mit der staatlichen Post statt um die getöteten Mitarbeiter der Post zu ehren. Diesmal ging die Veranstaltung 3 1/2 Stunden – und war auch durchgängig auf Kinyarwanda. Da es diesmal nichts Schriftliches gab, konnte ich noch schlechter folgen und konnte das Geschehen nur leidlich verfolgen. Es begann mit einem Gebet, anschließend gab es Blumen zum Niederlegen am Gedenkstein, es gab Reden, das Entzünden einer Gedenkflamme und ein Gedicht, vorgetragen von drei Mitarbeiterinneren der Post. Den bewegenden Teil musste ich mir danach von meinem Chef erzählen lassen, der mir erklärte dass die eine Rede von einer Zeitzeugin war, die seit den Sechziger Jahren dort in der Post gearbeitet hatte und die vielfältigen Unterdrückungen, die es auch vorher schon gegeben hatte, am eigenen Leib miterlebt hatte.

Ich bin mir nach den letzten beiden Wochen nicht sicher, ob das Wort “instrumentalisieren“ tatsächlich in diesem Zusammenhang richtig ist oder eher das Wort “kanalisieren”. Ich werde weiterhin versuchen, einen möglichst neutralen Blick zu behalten.