Seit mehr als 10 Jahren kennt Thomas Pallavi. Er hat mit ihrem Vater in Pune gearbeitet, als er beruflich in Indien war. Am Wochenende hat sie uns nun in unserer lieb gewonnenen ländlichen Einöde besucht. Es war Ihre erste große Reise ohne Begleitung durch ein männliches Familienmitglied. Pallavis Mutter hat der Reise auch nur zugestimmt, da wir die gesamte Familie erst vor drei Wochen in Pune besucht haben. Daher wusste sie, „Onkel Thomas“ ist mit seiner Frau in Indien und den Onkel kann man ja wohl mal allein besuchen. Es gab jedoch zahlreiche gute Reiseratschläge für die Tochter wie z. B. „Sprich mit niemandem!“ und „Verhülle dich gut mit deinem Tuch!“. Außerdem hatte Baba in einem Telefonat mit der Mutter versichert, dass er persönlich auf ihre Tochter aufpassen und sie auch persönlich am Sonntag wieder zu ihr zurück bringen würde. Dieses Versprechen hat er gehalten. Gerade haben wir beide in Sangola am Busbahnhof in den Überlandbus nach Pune verabschiedet. 

Thomas und ich haben uns anscheinend schon sehr gut an unsere Umgebung angepasst. Daher waren wir etwas erstaunt, dass Pallavi am Freitagabend in ihren Sonntagssachen, mit goldenen Lederschuhen, glitzerndem Haarschmuck und rotem Lippenstift ankam. Dagegen sah ich wie eine graue (allerdings sehr praktisch gekleidete) Maus aus. Pallavi war sichtlich schockiert von den ländlichen Wohnbedingungen (Bad und Toilette). Auch das nächtliche Erscheinen zahlreicher grau-grüner Kröten und dunkelbrauner „Springfliegen“ (keiner weiß, was das für Insekten sind, eine Mischung aus Fliege und Heuschrecke) fand sie nicht so lustig. Ängstlich schaute sie auch auf einem Spaziergang den streunenden Hunden hinterher, die manchmal auf unserem Hof toben. Die farblosen Geckos, die sich ganz flink an den Wänden und an der Decke entlang bewegen und vereinzelt immer mal wieder von dort auf den Fußboden herabfallen, erwähnte ich ihr gegenüber erst gar nicht. Ihr Erstaunen über die Lebensbedingungen auf dem Land, war für mich unerwartet. Pallavi ist selbst in einem Slum in Pune gross geworden und lebt immer noch mit ihrer Familie dort. Sie hat sich durch gute Bildung und Ausbildung weiter entwickelt und arbeitet jetzt als Lehrerin mit 6 Jährigen in einer Englischschule in Pune. Daher war sie sehr gespannt auf „unsere Schule“. 

Am Samstag waren wir gemeinsam von 8:30 bis 14:00 Uhr vor Ort. Nach einigen Hospitationen in verschiedenen Unterrichtseinheiten bestätigte Pallavi unsere Beobachtungen. Es waren also nicht unsere überzogenen deutschen Anforderungen nach Struktur und Ordnung, sondern in der Tat fehlen einige Grundvoraussetzungen in der Schule, die wir jedoch unterdessen schrittweise mit den Lehrern erarbeiten.
Nach überstandener Mittagshitze im Schatten des Farmhauses und mit kühlem Limettenwasser gingen wir 16 Uhr zum Markt nach Alegaon. Jeden Samstag ist Markttag im Dorf und so kauften wir wieder etwas Obst und Eis für die Kids.

Baba sitzt immer wenn er ins Dorf geht mit den Dorfältesten auf einer großen Bank, neben der einzigen Bushaltestelle in der Umgebung. Alle hochbetagten Herren sind von Kopf bis Fuß weiß gekleidet. Einige der Männer tragen sogar weiße Kappen. Ein Teil hat schwarze und der andere Teil hat pinkfarbene Punkte/Striche auf der Stirn (den Grund für diesen Unterschied muss ich noch in Erfahrung bringen). Ein tolles Bild, was ich mir jedoch nicht getraue, zu fotografieren.
Auf dem Marktplatz haben wir auch einen Lehrer und den Hausmeister „unserer Schule“ getroffen. Es ist schon ein irres Gefühl in dieser Abgeschiedenheit Menschen zu kennen, die einen freundlich grüßen und mit denen man sich dann auch noch einigermaßen englisch unterhalten kann. Die Blicke aller Dorfbewohner sind allerdings dann auf uns gerichtet und so kommt doch wieder ein Gefühl des Beobachtetwerdens auf.

Den Abend verbringen wir in angeregter Diskussion über die „Heiratstraditionen“ auf dem Land und in der Stadt. Das ist ein sehr aktuelles Thema für Pallavi, da sie mit 22 Jahren von ihrer Mutter nun verheiratet werden soll. Eigentlich sucht der Vater (oder ein älterer Bruder) nach einem Mann für die Tochter. Beide gibt es jedoch nicht (mehr) in Pallavis Familie und daher tritt die Mutter in Aktion. Zwei Bewerber hat Pallavi schon abgewiesen. So ein Verhalten ist in der Stadt möglich, auf dem Land jedoch eher unwahrscheinlich. Wir diskutieren sehr offen und versuchen unterschiedliche Perspektiven zu betrachten, also die Elternsicht, die Familie allgemein aber eben auch die jungen Frauen. Wirkliches Verständnis ist mir nicht möglich. Einerseits sind viele Frauen gerade in der Stadt durch Bildung und Arbeit schon stärker emanzipiert und trotzdem besteht noch ein restriktives Frauenbild, dem man sich fügt.

Indien ist das Land der Widersprüche. Häufig passen Dinge einfach nicht zusammen und man fragt sich, wie diese Gegensätze bestehen können. Aber das ist ein weiteres seitenfüllendes Thema.
Wir hatten jedenfalls ein erfahrungsreiches Wochenende. Pallavi sehen wir im Mai in Pune wieder. Dann sind Schulferien und wir besuchen erneut Freunde und ihre Familie.

Vergangene Woche hatten wir zum Abschluss der ersten Projektphase vorgeschlagen, dass wir als Dankeschön für die zwei anstrengenden Arbeitswochen gern etwas Privates mit allen Lehrern/innen nach der Schule machen wollen würden. Da einige Lehrer auch noch eine Farm führen und die Lehrerinnen die Familie versorgen, war uns klar, dass ein gemeinsames Treffen sicherlich nicht so einfach werden würde. Wie erwartet, wurde unser Vorschlag verhalten aufgenommen. Nach einer kurzen gemeinsamen Abstimmung favorisierten alle einen Ausflug zu einem Tempel, der sich 1 Stunden Busfahrt entfernt befindet. Das sei für alle machbar! Wir übergaben die Organisation in die Hände zweier Lehrer, da wir das Reiseziel ja nicht kannten. So sollte es nach dem Unterricht, 13:00 Uhr mit dem Schulbus los gehen. Wir würden unterwegs etwas essen und dann den Tempel besuchen.
Selbstverständlich ging die Fahrt nach indischem Zeitverständnis 13:00 Uhr los. Wir starteten 14:00 Uhr. Bis 13:20 Uhr musste noch eine Reifenpanne behoben werden und die restlichen Minuten vergingen halt auch noch, aus verschiedenen Gründen.
Mit uns im Bus saßen einige Schüler, die wir auf unserem Weg zum Tempel noch in ihren Heimatdörfern absetzten. Die Fahrt ging über Stock und Stein, in entlegenste Gegenden mit sehr karger Natur und weiten ausgetrockneten Flächen.

Unterwegs wurde dann nach ca. 1 Stunde eine kleine Rast in einem Dorf (max. 5 Häuser) eingelegt und frisches Wasser und Obst besorgt. Von einem Tempel jedoch weit und breit keine Spur. Im Bus war es stickig und staubig durch den heissen Fahrtwind, der durch die offene Tür und einige offene Fenster hereinkam.
Die Stimmung jedoch war grandios! Das hatten wir so auf keinen Fall erwartet. Alle scherzten, lachten und erzählten. Es wurde viel in Marathi gesprochen. Daher waren Thomas und ich manchmal etwas außen vor. Wir bekamen jedoch auch immer mal wieder eine Übersetzung, so wussten wir ansatzweise, worum es ging und hatten ebenfalls sehr viel Spaß.

Wir wurden, kaum dass wir im Bus saßen wieder aufgefordert, Fotos von Lotti und Leo und auch von allen anderen Familienangehörigen zu zeigen. Jeder Einzelne wird dann bestaunt und man muss genau berichten, was jeder macht bzw. wo derjenige lebt etc. Auch mein Foto im Sari wollen immer alle sehen! So verging die 2. Stunde im Schulbus und plötzlich, wie aus dem Nichts, war hinter blühenden Sträuchern und frischen grünen Bäumen der Tempel zu sehen. Wir waren sprachlos. Was für ein Unterschied zwischen der ländlichen kargen Umgebung und dem angelegten Tempelgarten. Alle waren begeistert! Es begann ein Fotoshooting, was auch allen sehr viel Spaß gemacht und viele schöne Motive hervorgebracht hat.

Auch diesmal durften wir als Fremde in den 1000 Jahre alten Tempel hinein, jedoch nur den Männern war es gestattet, in das „Allerheiligste“ einzutreten. Vorher mussten sich jedoch alle einer rituellen Reinigung (Hände und Füsse) unterziehen.

Nach jedem Gebet im Tempel wurde eine der zahlreichen, an Sticken im Raum hängenden Metallglocken per Hand angeschlagen. Und jede/r von uns bekam wieder den roten Punkt zwischen die Augenbrauen, als Zeichen der Segnung.
Wir picknickten im Tempelgarten das mitgebrachte Obst, kauften ein paar Kokusnüsse, die vor dem Tempel mit einer kleinen Zeremonie aufgeschlagen wurden.
Gestärkt und gesegnet begann die Rückfahrt auf einer anderen Strecke, so dass wir nicht mehr 2 Stunden unterwegs waren. 18:10 Uhr wurden wir an der Dorfstraße zu unserem Farmhaus abgesetzt. Was für ein schöner erlebnisreicher Tag!

Schulregeln

Alle Schüler/innen wachsen mit zahlreichen Regeln und Zeremonien auf. Jeder Schultag beginnt mit einer 15-minütigen Zeremonie. Selbstverständlich wird die Nationalhymne gesungen, alle schwören ihre Verbundenheit mit dem Vaterland, es wird ein Gebet gesprochen, die Geburtstagskinder werden vor allen Versammelten geehrt und wichtige Inhalte werden durch einen Schüler oder einen Lehrer verkündet. Dies alles erfolgt sowohl in englischer Sprache als auch in Marathi.
Daher war es für uns sehr verwunderlich, dass es keine festgeschriebenen Schulregeln gab. Diese haben wir nun gestern in einem kleinen Workshop auf drängenden Wunsch aller mit den Lehrern erarbeitet. Es sind 5 allgemeinen Regeln für Lehrer und Schüler entstanden:

1. Ich liebe mein Land und die Umwelt.
2. Ich liebe es, zu lernen.
3. Ich spreche gern englisch.
4. Ich stehe zu dem, was ich sage (Disziplin).
5. Ich verpflichte mich, Ergebnisse (Leistung) zu erzielen.

Es war ein sehr gelungener Workshop. Thomas hat nach der gemeinsamen Erarbeitung dieser Regeln jeden Lehrer mit persönlichem Handschlag auf diese Regeln „eingeschworen“. Das war ein ganz phantastischer Moment, alle waren mega stolz! Durch diese Geste wurde das persönliche Engagement gewürdigt und die individuelle Zustimmung zu den Regeln abgefordert.
Heute früh hat der Schulleiter in der morgendlichen Zeremonie diese 5 Regeln offiziell für alle eingeführt und verkündet. Alle Schüler mussten sie dann im Chor aufsagen. In der sich anschließenden ersten Unterrichtsstunden hat jede Klasse alle 5 Regeln aufschreiben und inhaltlich diskutieren müssen. Nun wird jeden Morgen eine der Regeln in die Zeremonie eingebaut, so dass sie sich verfestigt.
Das alles erinnert mich sehr stark an das sozialistische Schulsystem. Es ist in Ansätzen durchaus wirksam, gerade wenn es um Disziplin geht. Trotzdem versuchen wir, gerade deshalb, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Regeln wichtig sind aber die Individualität ebenso gefördert und berücksichtigt werden muss.

Dabei ist mir mit Erschrecken aufgefallen, dass auch ich mit meinen Kollegen/innen keine allgemeinen Regeln für die Ambulante Betreuung habe. Vielleicht sollten auch wir uns mal die Zeit nehmen, uns auf 5 allgemeine Standards zu verständigen. Spannend! Was da wohl rauskommt?

Sommergewitter

Gestern Abend hat Mutter Natur wieder einmal gezeigt, welch starke Kräfte sie besitzt.
Nach einem recht warmen Vormittag und schwül-warmen Nachmittagsstunden zogen am Abend einige Wolken auf und etwas Wind wehte. Die recht angenehmen Temperaturen ließen uns etwas aufatmen. Jedoch gegen 20:00 Uhr brach plötzlich ein heftiger Sturm aus. Eine Naturgewalt, wie ich sie bisher im städtischen Umfeld noch nicht kennengelernt habe. Die Luft war plötzlich voll stickigem Sand, der aufgewirbelt wurde. Zweige und Blätter tanzten ebenfalls in der Luft, es verschlug einem den Atem. Man konnte nur noch wenige Meter sehen. Sandkörner im Mund und in den Augen. Das Maisfutter für die Kühe und die Futterschüsseln flogen herum. Auch alles andere, was ansonsten immer draußen irgendwo herumlag oder herumstand wirbelte durcheinander: Schuhe, Fahrrad, Seife, Lappen, Besen, abgespültes Metallkochgeschirr, Plastikstühle.
Es blitzte so heftig, dass man den Eindruck hatte, der Himmel würde dadurch geteilt und aufgerissen. Donner folgte!
Von Baba kam nur noch die laute und kurze Ansage „Go inside! Lock windows and door.“ Und schon ging es richtig los! Ein Sandsturm mit heftigstem Regen. Der trommelte auf unser Blechdach, so dass man kein Wort mehr verstand. Wir verriegelten alles und lauschten angespannt, was sich da plötzlich abspielte. Auf dem Hof versuchten die Männer die Motorräder zu sichern. Auch die Gatter der Tiere mussten schnell noch geschlossen werden, da vermutlich sonst die Gefahr bestand, dass sie ausbrechen. Aber das konnten wir alles nur erahnen.
In wenigen Minuten viel der Strom aus (und kam auch bis heute Mittag nicht zurück). Es war rabenschwarze Nacht drinnen und draußen. Wir öffneten die Tür einen kurzen Spalt, um rauszuschauen, ob wir helfen können, wobei auch immer. Blitze zuckten gespenstisch und zeigten die Umrisse der Gebäude. Wir kramten drinnen hektisch unsere zwei Outdoorstirnlampen raus. Ein kleiner aber ausreichender Lichtschein erhellte nun unseren Raum. Darüber konnten wir uns jedoch nur kurz freuen, da durch den Lichtkegel alles fliegende Getier angezogen wurde. Es brach ein Flattern und Krabbeln aus und ich bekam einen Panikanflug!
Der Regen peitschte weiter heftig und die Tropfen prasselten wie Hagelkörner auf das Blechdach. Ich dachte, es bricht gleich zusammen. Durch kleine Risse und undichte Stellen sickerte allmählich der Regen. Wir versuchten alle technischen Geräte im Schrank zu sichern, die Daunenschlafsäcke zu verstauen und schoben die Matratze, auf der Thomas schläft von einer Ecke in die andere. Die Stirnlampe hatte ich in der Mitte des Raumes angehangen, so dass alle fliegenden Mitbewohner dorthin gelenkt wurden. Ausgetrickst!
Sicherheitshalber wechselte ich vom legere und luftige Heimdresscode zum kompletten Strassenoutfit, nur für den Fall, dass wir das Haus verlassen müssten oder das Dach einstürzt. Ohne Lüftung und Ventilator war es jedoch in wenigen Sekunden unerträglich warm, erst recht wenn man komplett angezogen ist. Der Schweiß lief mir in Bahnen den Rücken runter. Ich war klatschnass und saß schon wieder im Dunkeln, da die Batterie der einen Stirnlampe den Geist aufgegeben hatte. Also Strom/ Licht sparen.
Zur Vermeidung weiterer Panik und als Lichtquelle wollten wir ein Video anschauen, jedoch verstanden wir kein Wort aufgrund des heftigen Regens und brachen die Aktion daher ab.
Nach einer Stunde beruhigte sich das ganze Naturschauspiel. Es klopfte plötzlich an unserer Tür und Shria brachte unser Abendessen. Ich war perplex und hatte nicht ansatzweise damit gerechnet, noch eine warme Mahlzeit zu bekommen. Wir konnte Shria denn nur gekocht haben? O.k., offenes Feuer aber die Stelle dafür in der Küche ist im Dach ebenfalls offen damit der Rauch abziehen kann, und dort hatte es doch mit Sicherheit reingeregnet. Auch sie konnten nur eine Taschenlampe als Lichtquelle genutzt haben… und dann noch kochen? Ein Rätsel, wie das funktioniert hat.
Wir waren erleichtert und ein wenig hungrig. Auf einem Metallbett sitzend, mit etwas Licht von der zweiten Stirnlampe in der Raummitte, speisten wir wieder vorzüglich.
Mehr Abenteuer kann ich allerdings nicht gebrauchen, das ist vollkommen ausreichend!