Social distancing

„Social distancing“ hat für mich ganz großes Potential zum „Unwort des
Jahres 2020″ gekürt zu werden. Wenn wir sozial sein wollen, wollen wir uns eigentlich anderen nähern, helfen und nicht auf Distanz gehen. Doch im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie fordert „social distancing“ genau das. Wir halten Abstand zu anderen Menschen und schränken unsere sozialen Kontakte in persönlichen Begegnungen ein. Wobei dann doch wohl eher der örtlich-räumliche Abstand, also „physical distancing“ gemeint ist.

Selbstverständlich wollen und sollen wir gerade in der Corona-Krise sozial sein. Bewusst unterstützen wir Risikogruppen und helfen z. B. älteren Menschen beim Einkauf, jedoch stellvertretend für sie statt mit ihnen. Daher sind wir gleichzeitig sozial und distanziert. Eigentlich distanzieren wir durch unser Sozialsein andere von uns und von deren normalem alltäglichen Leben. Also was denn nun? Distanz oder Nähe? Es ist kompliziert. Fest steht, es ist eine große Kunst, beides- Nähe und Distanz- gekonnt miteinander zu verbinden.

Seit wir hier in Ruanda sind, betreiben wir „social distancing“ denn wir haben hier weitaus weniger Sozialkontakte, mit denen wir uns tatsächlich treffen. Wir sind sozial über die Distanz hinweg, also mit Freunden, Kolleginnen und mit der Familie in der Heimat. Nicht erst seit der Verordnung des „social distancing“ als Corona-Schutzmaßnahme nutzen wir diverse Medien, um im Kontakt mit anderen zu bleiben. Es wird telefoniert, gefacetimed, getwittert, ge-WhatsApped, ge-SMS’t und regelmäßig kommen neue Medien dazu. Leider begreife ich die Unterschiede zwischen all diesen Anbietern gar nicht und so einfach erschließen sie sich mir auch nicht. Daher nutze ich auch nur sehr eingeschränkt und trotzdem stärker als je zuvor die Sozialen Medien. Man kommt ohne sie auf gar keinen Fall mehr aus.

Die Sozialen Medien sind eine ganz phantastische Möglichkeit, um über Entfernungen hinweg schnell mit anderen in Verbindung zu treten oder zu bleiben. Trotz „social distancing“ kann man sich weiter über lieb gewonnene Menschen informieren, an ihrem Leben oder sogar an ihrem Alltag teilhaben. Man kann auch andere am eigenen Leben teilhaben lassen, indem man vermeintlich Interessantes aus seinem eigenen Leben in Soziale Medien einstellt. Auf persönlich unpersönliche Art und Weise ist und bleibt man so miteinander verbunden.

Trotzdem ist es um ein Vielfaches schöner, miteinander von Angesicht zu Angesicht zu reden. Daher ist mein „schönstes Coronaerlebnis“, ein Videotelefonat mit allen drei Bamberger Mädels (langjährige Studienfreundinnen) und ihren Männern. Der
winzige Bildschirm meines Handys teilte sich mit jeder Anruferin, die dazu geschaltet wurde in einen weiteren noch weitaus kleineren Bildschirm.
Zuletzt waren vier winzige Live-Bilder, von jedem Paar ein Bild, auf meinem Handy-Screen zu sehen.


Wir freuten uns riesig, uns nach so langer Zeit alle wiederzusehen. Zuletzt hatten wir uns Pfingsten 2019 in der Fränkischen Schweiz zum Zelten getroffen. Wir waren begeistert, dass die Telefonverbindung zwischen Deutschland und Ruanda doch relativ konstant bestehen blieb. Es war erleichternd zu hören, dass es allen, gerade in den letzten Wochen unter den doch extremen Corona-Schutzmaßnahmen, ganz gut ergangen ist. Auch die Kids in den Familien kommen mit den Einschränkungen und der veränderten Schulsituation gut zurecht. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern perfekte
Organisation und gute Aufgabenteilung. Die drei Mädels haben´s im Griff! Die Männer ziehen mit! Matthias hat einen neuen Job begonnen und ist nun ebenfalls in den Bayrischen Staatsdienst eingetreten. Jörg möchte seine psychotherapeutische Zusatzausbildung trotz der schwierigen Bedingungen beenden, doch erst einmal ist Unterstützung beim „home schooling“ seiner drei Söhne angesagt. Hochachtung dafür! Ihr seid alle unglaublich!


Für Thomas und mich dagegen ist schon das tägliche Aufeinanderhocken zu Hause eine Herausforderung. Gerade nutzen wir im gesamten Haus auch nur noch das Wohnzimmer und die angrenzende Küche. Die obere Etage haben wir zur Quarantänezone ausgerufen, sie ist ungenutzt. Der Flurbereich hat durch starke Regefälle und aufgrund von kleinen
Dachschäden, die unterdessen repariert wurden, Feuchtigkeit bekommen. Es hat sich Schimmel an der Decke gebildet, die Wände sind feucht und Tapete löst sich vereinzelt ab. Wir vermuten, dass das der Grund dafür ist, dass Thomas in den letzten Wochen mit asthmatischem Husten und Luftnot darauf reagiert hat. Kein Corona! Er hatte sich im Rahmen seines homeoffices mehr als üblich in den oberen Räumen aufgehalten. Jetzt sind wir fast ausschließlich im Wohnzimmer, schlafen auch dort auf einer Matratze und wollen die Symptome mal ein wenig beobachten. Dazu hat Thomas ein „Anfallstagebuch“ zu schreiben begonnen, so dass wir vielleicht doch besser die Zusammenhänge erkennen können.

Mit den Bamberger Mädels telefonierten wir tatsächlich 3 Stunden. Unsere Probleme relativierten sich für mich schlagartig im Angesicht deren, für mich nur zu gut vorstellbaren Herausforderungen im Alltag. Wir haben uns vorgenommen, das technische Experiment des Videotelefonats bald einmal zu wiederholen.

Ein ähnliches schönes Erlebnis war für mich das gemeinsame Videotelefonat mit den Kids, anlässlich der offiziellen Vereidigung von Leo am Ende seines Studiums zum Bachelor im gehobenen Polizeidienst. Das wollten wir gemeinsam feiern und so telefonierten wir gleichzeitig mit Lotti und Leo. Jeder von uns hatte sich ein Getränk bereitgestellt und so stießen wir, weit entfernt voneinander, trotzdem gemeinsam auf den neuen Lebensabschnitt von Leo an.
Doch auch mit den Kids waren wir in diesem Telefonat schnell wieder beim Thema Corona. Leo und seine Freundin Larissa sind sogar beide in „systemrelevanten Berufen“ tätig und daher nun besonders wichtig für unsere Gesellschaft. Sie halten die öffentliche Ordnung aufrecht oder betreuten die Kinder anderer „systemrelevanter“ berufstätiger Eltern. Auch dieses Wort hat durchaus Potential, zum „Unwort des Jahres“ ernannt zu werden. Schön, dass wir über reichlich Auswahlmöglichkeiten verfügen.

Am jeweils anderen Ende der Welt, manchmal sogar in unterschiedlichen Zeitzonen sehen und hören wir Freunde, Thomas Geschwister, unsere Eltern, die Kids und Kolleginnen. Und diesmal sitzen wir alle im gleichen Boot, wo auch immer wir uns gerade aufhalten. Oft können wir uns gegenseitig nicht viel Neues berichten. Zu viele krisenbedingte Einschränkungen begrenzen den Alltag. Doch eins vermissen wir trotz aller Unterschiedlichkeit im sonst gewohnten Lebensstil gleichermassen, soziale Nähe durch persönliche Kontakte! Denn die kann kein noch so gutes Videotelefonat ersetzen.

Bis bald ihr Lieben! Bleibt gesund!

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