Assessment

Ich habe schon etliche Vorstellungsgespräche hinter mich gebracht, doch war ich in den letzten Jahren immer diejenige, die die Gespräche geführt hat. Gemeinsam mit einer Kollegin waren wir „berühmt“ für unsere sehr individuellen Gespräche. Vereinzelt haben wir sogar von abgelehnten Bewerber*innen noch sehr nette Dankes-e-mails erhalten, wie emphatisch und persönlich interessiert sowie auf Augenhöhe das Gespräch stattgefunden habe. Das hat uns natürlich stets gefreut und darin bestärkt, das Verfahren auch so weiter zu führen.

Diesmal war ich diejenige, die sich auf eine sehr interessante Stelle als „Beraterin einer NGO zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung“ beworben hatte und zum Auswahlgespräch eingeladen wurde. Ein Assessment von 2,5 Stunden wurde angekündigt und der Ablauf würde mir per e-mail in ein paar Tagen zugeschickt werden. Oh! Was würde da wohl auf mich zukommen? In den letzten 20 Jahren hatte ich kein Vorstellungsgespräch mehr selbst wahrgenommen und schon gar kein Assessment. Durch Internetrecherche bekommt man ja sehr schnell eine Vorstellung von dieser „Methode zur Personalauswahl“. Klassisch- konservativ, standardisiert und wenig persönlich waren die beschreibenden Attribute. Wollte ich das wirklich? Hätte ich das vorher gewußt, hätte ich mich wahrscheinlich gar nicht beworben. Aber nun würde ich es wenigstens versuchen.

Da ich unterdessen über ausreichend Kontakte hier in Kigali verfüge, wurden mir die Verantwortlichen und zuständigen Personen im Zusammenhang mit der ausgeschriebenen Stelle auch schnell zugetragen. Ich kontaktierte sie für erste Informationen. Beratung einer NGO, die sich der Förderung blinder Menschen widmet, verbunden mit Organisationsentwicklung und Projekten zum Wirkungswachstum und zur Erhöhung der Sichtbarkeit dieser Organisation sowie Einführung eines Monitoring- und Evaluationssystems. Das schien sehr vielfältig, spannend aber auch eine große Herausforderung für mich zu sein. Lebenslanges Lernen wird doch immer propagiert. Großartig! Genau das Richtige für mich!

Die Vorbereitung auf mein erstes Assessment lief gut. Ich recherchierte über die Partnerorganisation, informierte mich zu theoretischen Arbeitsansätzen und Methoden sowie Umsetzungsstrategien, las über Rwanda und befragte Freundinnen, die in ähnlichen Positionen tätig waren. Das würde reichen, ich fühlte mich gut vorbereitet.

Das Assessment begann mit meiner individuellen Vorstellung, also persönliche entertainende Werbung für meine Eignung auf die ausgeschriebene Stelle. Improvement urgently needed! Danach sollte ein Fachvortrag folgen, zudem ich eine Aufgabenstellung erhielt, die ich in 10 Minuten vorbereiten konnte. Danach würde sich ein „strukturiertes Interview“ (Kompetenzbereiche mit einem Psychotest abfragen) anschließen, gefolgt von einem Rollenspiel zu einer Konfliktsituation. Künstliche Beziehungskonflikte in Rollenspielen darstellen, mag ich so sehr wie ein Klaustrophobiker enge Räume. Aber da musste ich jetzt durch.

Das Assessment fand online über Skype Business und Microsoft Teams statt. Ich wurde von dem prozessverantwortlichen Personalreferenten begrüßt. Er erklärte mir noch einmal den Ablauf u. a. mit den Worten „… in einem strukturierten Interview würde ich dann noch auf eine andere als meine fachliche Eignung hin durchleuchtet….“

Das war doch jetzt nicht wahr, oder? Wollte ich durchleuchten werden? Wieso wollte man meine bis dahin bereits schon oder auch noch nicht zu Tage getretenen Schwächen noch tiefer durchleuchten und hervorbringen? Ein einfaches fachliches (und begrenzt persönliches) Interesse zugunsten der ausgeschriebenen Stelle hätte mir vollkommen gereicht.

Den Fachvortrag vergeigte ich komplett, fand keine Struktur und konnte dadurch auch nur begrenzt passende fachliche Inhalte darstellen. Dabei ist doch „Struktur“ mein zweiter Vorname. Zumindest dachte ich das bisher immer. Doch offensichtlich hatte mich etwas oder jemand aus der Bahn gebracht. Zeitdruck? Schlechte Vorbereitung? Fokussierte Vorbereitung auf die ausgeschriebene Stelle und dadurch keine Flexibilität in der Bearbeitung eines anderen, abweichenden Fallbeispiels? Es wird wohl eine Mischung aus allem gewesen sein. Auf Nachfrage der teilnehmenden Fachberaterin und der Psychologin wurden meine Aussagen besser und ich konnte das eine oder andere inhaltlich noch einbringen. Den Psychotest und das Rollenspiel bestand ich meiner Meinung nach ganz passabel doch ein Wohlfühlfaktor kam während des Gesprächs nicht wirklich auf. War aber ja auch nicht gewollt und beabsichtigt.

Abschließend blieben mir noch 10 Minuten, um Fragen zur ausgeschriebenen Stelle zu adressieren. Auch da erhielt ich einen ernüchternden Einblick. So vielfältig, wie die Ausschreibung geklungen hatte, schien die Stelle jetzt gar nicht mehr gedacht und geplant zu sein. Enttäuschung!

Unmittelbar nach dem Assessment fuhren Thomas und ich gleich für ein verlängertes Wochenende mal wieder in das Ferienhaus der GIZ am Kivu Lake. Wir wollten mit geliehenen Rädern die Berge hoch und runter. Doch im Auto reflektierten wir erst einmal gemeinsam das Auswahlgespräch. Und nun fügte sich alles zu einem Gesamtbild zusammen. Ich war mir sicher, dass alles so kommen würde, wie es auch tatsächlich passte. Ich hatte viel über mich gelernt und musste nach langer Zeit mein Selbstbild mal wieder etwas anpassen. Lebenslanges Lernen, ist nicht nur eine Theorie.

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